eine Bühne mit angedeuteten spotlights
Journalismus

Hanns Zettel, 56, Schauspieler, blind

„…und nun machen wir alle die Augen auf“

„Ich habe 56 Jahre lang gut, ja, eigentlich alles gesehen. Wenn ich in den nächsten 50 Jahren nichts mehr sehe, ist das auch in Ordnung.“ Über den Tisch hinweg wirken Hanns Zettels Augen gar nicht wie die eines Blinden. Sie sind blaugrau, etwas milchig. Nur, wenn man genau hinsieht, fällt auf, dass sie ein wenig seltsam nach oben gerichtet sind. Er trägt einen roten Rollkragenpullover, verschränkt die Arme als posiere er für ein Klassenfoto und lächelt in die Kamera. Sein Schmunzeln wirkt verschmitzt, knabenhaft, aber auch etwas verkniffen, als er errät, dass ich mit einer Olympus arbeite. Aber ja, erinnert er mich, wir sprachen doch darüber, als er mich von der Straßenbahnhaltestelle zum Haus begleitete.

Juli 1998, ein verregneter Sonntagnachmittag: Am Zettelschen Kaffeetisch gibt es Obsttörtchen und die Geschichte eines Mannes, der fast 30 Jahre erfolgreicher Abteilungsleiter einer Computerfirma war, bis er vor sechs Jahren erblindete und nun Invalidenrentner ist. Heute Abend wird Hanns Zettel zum fünften Mal in „wunde ödipus“ auf der Theaterbühne des Stadttheaters Hannover stehen.

Dass Hanns Zettel sich noch weitere 50 Jahre Leben zugesteht, ist keine Koketterie, sondern Ehrgeiz. Der bewahre ihn vor dem zu resignieren, was andere Menschen Schicksalsschläge nennen.

„Für viele sind wir die Krüppelfamilie. Frank – tätschelt Zettel den Arm seines Sohnes – kam als Down-Kind zur Welt. Bis heute lädt uns ein Teil der Verwandtschaft nicht ein oder setzt ihn mit seinen 29 Jahren an den Kindertisch“. Ohne zu trinken stellt Hanns Zettel den Kaffee wieder zurück und sagt: „Aber genau das hat unsere Familie zusammengeschweißt.“ Frank wird unruhig. Unvermittelt streichelt er seinen Vater: „Hanns, ich hab Dich lieb, Hanns.“ Der wehrt die Liebkosungen beruhigend ab: „Ist gut, Frank.“

Katja, die vierzehn Jahre jüngere Schwester Franks will ihn mit hinaus nehmen, aber Frank besteht darauf, noch ein Stück Himbeerkuchen zu bekommen.

Lilo, Zettels Frau, bringt frischen Kaffee aus der Küche: „Ach wissen Sie, manchmal fragen die Verwandten sogar, ob mein Mann nicht doch noch etwas sehen kann, die Leute glauben das einfach nicht. Oft genug haben wir das Gefühl, die Anderen trösten zu müssen.“

1992, kurz vor seinem 50. Geburtstag und der anstehenden Silberhochhochzeitzeit musste Hanns Zettel mit einer Entzündung am Fuß ins Krankenhaus. Diagnose: Diabetes. „Als Folgeerscheinung verschlechterte sich mein Sehvermögen zusehends „. Lilo nimmt Franks Teller zur Seite, damit er sich nicht noch ein Kuchenstück nimmt.

„Die Ärzte haben soviel an meinem Mann herumgedoktert, man fragt sich immer, was kommt denn jetzt noch? Sie wollten ihm die Augen sogar ganz herausnehmen, stellen Sie sich nur das nur vor!“

Hanns Zettel beschwichtigt: „Für einen selber ist es ja nicht so schlimm, aber das Umfeld, die Familie.“ Es drängt ihn, zur Geschichte zurückzukommen: „Das Theater-Taxi holt uns um Vier ab, wir haben nicht mehr allzuviel Zeit.“

Niemand außer mir erschrickt, als eine Roboterstimme plötzlich sagt: „Es ist fünfzehn Uhr und dreißig Minuten.“ Ohne Uhr, erfahre ich, sei ein Blinder hilflos, weil durch die ständige Dunkelheit der Tagesrythmus verloren geht.

„Wenn ich nicht rechtzeitig schlafen gehe, komme ich völlig durcheinander.“ Dabei vermittelt er nicht den Eindruck, als würde ihn jemals irgendetwas durcheinanderbringen. „Doch, einmal zog eine fremde Frau auf der Straße mich einfach mit, ohne zu fragen, wohin ich überhaupt möchte. Als sie nichts mehr mit mir anzufangen wusste, ließ sie mich stehen. Ich hatte überhaupt keine Orientierung mehr. Die Leute sind oft so überfürsorglich.“

Damit er möglichst wenig auf fremde Hilfe angewiesen ist, erkundete Zettel schon zu Beginn der Sehschwäche sämtliche Hannoversche Haltestellen und trainierte mit dem Blinden-Langstock. Als Vorstandsmitglied des Blindenverbandes setzte er bei­    spielsweise, gemeinsam mit anderen, die blindengerechte Umrüstung der Ampeln in Hannover-Garbsen durch.

Frau Zettel will den Tisch nachher allein abräumen: „Ihr müsst doch los,“ hilft sie ihrem Mann noch in den Mantel. „Ich bin ja so froh, dass er das Theater hat, obwohl er jetzt dauernd abends weg ist. Manchmal fehlst Du mir schon richtig.“ Wieder sein verschmitzter Ausdruck: „So muss das auch sein.“

Das Taxi wartet, vom vorderen Sitz begrüßt uns eine dicke Frau mit starker, abgedunkelter Brille. Sie spielt eine der weisen Frauen in „wunde.oidipus“.

„Sag Du doch mal, was ist für uns das Wichtigste am Theaterspielen?“ begrüßt Hanns Zettel sie herzlich. Das Lachen von Frau Meyer, deren Blindenstock den Taxifahrer fast beim Schalten zu behindern droht, klingt ansteckend: „Dass wir so schnell und gleichberechtigt in das Team der Profischauspieler integriert wurden.“

Hanns stimmt ihr ohne Umschweife zu und gibt dann dem Fahrer Anweisungen, weil der sich nicht auskennt. Weder Zettel noch Frau Meyer zögerten, als eines Tages Christof Nel, der Theaterregisseur im Blindenverband eine Mitarbeit für fünf Frauen und zwei Männer bei „wunde.oidipus“ anbot.                                                                “ :

„Obwohl es mir ganzschön schwer fiel, die lyrischen Texte auswendig zu lernen“, räumt Zettel ein.

Frau Meyer wendet sich nach hinten und zitiert: „..und nun machen wir alle die Augen auf. – Schön, nicht?“

Da er die Blindenschrift noch nicht beherrscht, ließ Zettel sich die Texte auf Kassette sprechen. Vier Wochen probten die Schauspieler gemeinsam mit ihren blinden Kollegen das Stück und den Umgang miteinander. Durch die Zusammenarbeit ergaben sich neue Aspekte. „Dem Regisseur gefiel zum Beispiel, wie wir nach und nach die Bühne erkundeten,“ erklärt Hanns stolz: „Also ersetzte er die alte Einführungsszene durch diesen Vorgang. Jetzt muss das Publikum fünf Minuten aushalten, wie acht Blinde über Eimer und Stühle stolpern.“ „Ich dachte, nach so vielen Proben und einigen Aufführungen kennen Sie die Bühne?“

„Ja, aber, die Dinge liegen ja nicht immer am gleichen Platz. Uns macht das nichts aus, und so schnell fällt man ja auch nicht. Aber für die Zuschauer scheint das schwer zu sein.“    Wieder das kehlige Lachen. Hanns Zettel stimmt verhalten ein.                       

Frau Meyer vornweg, fädeln wir uns händehaltend, im Herdengang durch den schmalen Bühneneingang. Zettels Fingerkuppen sind ganz rauh und aufgekratzt, sein Griff eher tastend, und doch auch führend.

„Bei der Premiere sind manche Leute bereits nach zehn Minuten wieder gegangen, die hielten das einfach nicht aus.“ weiht Zettel mich ein.

Frau Meyer geht in die Garderobe, wir bleiben in einem neonbelichteten, ungemütlichem Aufenthaltsraum zurück. Die Männer kleiden sich nach den Frauen um.

„Ärgert Sie das nicht, wenn die Leute so ignorant sind?“

„Nein, ich seh es ja nicht. Damit muss man fertig werden und wir können auf die Gefühle des Publikums keine Rücksicht nehmen.“ Inzwischen kommen die anderen Beteiligten, die Souffleuse, Schauspieler, der Regisseur, Bühnenarbeiter. Hanns Zettel erkennt alle an der Stimme und begrüßt jeden einzelnen mit Namen.

Während Zettel auf die Maske wartet, bekennt er: „Mich beeindruckt am meisten die ganze Bühnentechnik, der riesige Aufwand, der hinter der Bühne betrieben wird.“

„Das Stück?“

„Wir Blinden geben uns so natürlich wie möglich, das erfordern unsere Rollen. Der Rest liegt nicht in unserer Hand,“ Zettel schließt die Augen, als die Maskenbildnerin mit dem Puderquast über sein Gesicht fährt: „Nein, nein. Das ist eine einmalige Angelegenheit für mich. Zuviel Psychologie für einen wie mich.“

Die Klingel läutet zum zweiten Mal.

Ich folge Hanns durch einen schmalen Gang zur Bühne. Er stößt an einen Spiegel, ich zucke zusammen.

„Der stand doch gestern noch nicht hier.“ lacht er und wartet Hand in Hand mit den anderen Blinden auf    das dritte, das finale Läuten.

„Lampenfieber? Nein, ich bin doch ein sachlicher Typ.“

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