Yogyakarta: Zwischen Vokabeln und Verkehrslärm

drei Indonesier an einer Haltestelle

Ein persönlicher Reisebericht über Sprachschule, Alltagskultur und das Erwachen einer Stadt. (2004)


Morgengruß mit Melodie

„Selamat pagi!“ grüßt jemand in freundlichem, indonesischen Singsang. Über meinen Stapel Vokabelkarten lugend, entdecke ich unterhalb meines Balkons unsere Nachbarin auf ihrem Moped. Zwei verschleierte Frauen, dicht an die Fahrerin gedrängt, versuchen, sowohl das wenige Wochen alte Baby als auch zwei voll beladene Körbe Papayas auszubalancieren. Schlingernd startet das überladene Gefährt in den Tag.
Sechs Uhr; Yogyakarta erwacht.


Ankommen in Yogyakarta – Eine Stadt voller Sprache und Leben

Vor zwei Wochen bin ich in dieser Studentenstadt auf der indonesischen Insel Java gelandet, um in den folgenden drei Monaten „Wisma Bahasa„, eine der hiesigen Sprachschulen, zu besuchen. Der Name bedeutet so viel wie „Haus der Sprache“, und zur Gründungszeit 1982 unterrichteten vier Lehrer vor allem Mitarbeiter von Hilfsorganisationen sowie Diplomaten. Seither sind jedoch auch viele Touristen hinzugekommen, die Zahl der beschäftigten Lehrer ist auf 18 gestiegen.

Bereits vor meiner Ankunft hatte Nurzi, die allseits hilfsbereite Sekretärin, meine Unterbringung in einem „Homestay“ geregelt, wo ich gemeinsam mit Sprachschülern aus der Schweiz, England, Japan sowie einem englisch-lernenden Priester aus Flores lebe.


Zwischen Verkehrschaos und Rattansesseln

Allmorgendlich, kurz vor acht, stapfen wir im Gänsemarsch die Straßen Yogyakartas entlang und versuchen uns im allgemeinen Verkehrschaos wacker zu schlagen. Der Besitz eines Führerscheins ist hier nicht die einer bestandenen Praxis- oder gar Theorieprüfung, sondern eine des Geldes. Mittlerweile haben wir uns die von allen Seiten heranbrausenden, laut knatternden Mofas, an die schlingernden Fahrrad-Becaks genauso gewöhnt wie an die Müllsammler mit ihren unförmigen Dreiradkarren, auf denen Körbe voller stinkenden Abfalls schlingern.

Angekommen im Schulhof, laden bequeme Rattansessel und die jeweils aktuelle „Jakarta Post“ zum Verweilen ein. Doch erwarten uns die Lehrer, mit Kassettenrecordern und Büchern bewaffnet, bereits am Kaffeeautomaten. „Apa kabar? – Wie geht’s?“ so beginnen fast alle Unterhaltungen hier. Eine andere Variante ist, sich – wie bei uns auch – über das Wetter zu äußern. Einziger Unterschied: Hier beklagt man sich natürlich nie, dass es zu kalt sei.


Grammatik, Geduld und das Lächeln von Apri

Erprobt darin, uns in einen lebhaften, auf Indonesisch geführten Plausch zu verwickeln, begleiten sie uns in einen der Unterrichtsräume. Diese sind nach indonesischen Orten oder Inseln wie Jakarta, Solo oder Flores benannt, spartanisch, aber liebevoll eingerichtet, und wir verbringen dort je vier oder sechs Stunden mit wechselnden Lehrern, Schwerpunkten und Personal.

Unabhängig davon, ob man nun sein Augenmerk auf die Grammatik oder den Wortschatz legt – Einzelunterricht ist Luxus und Qual gleichermaßen. Sprache, jedenfalls wenn sie noch so unvertraut ist, scheint mehr Sound oder Melodie denn wirkliches Kommunikationsmittel zu sein. Selbst mit den Lehrern, die immerhin alle Englisch, Französisch und manche gar Deutsch oder Japanisch gelernt haben, gehen die Unterhaltungen nur stockend voran. Jedem Papagei fällt es wahrscheinlich leichter, die wohlintonierte Aussprache der Lehrer zu imitieren, und an manchen Tagen fällt es mir schwer, meiner Lehrerin Siska zuzustimmen, dass Sprache wie Ikebana sei.

Besonders hilfreich sind jene Stunden, in denen meine Lieblingslehrerin Apri auf dem Plan steht. Die fröhliche, beleibte Mittdreißigerin kennt meine Schwierigkeiten. Hin und wieder, wenn ich kurz vorm Verzweifeln bin, heitert sie mich mit eingeworfenen deutschen Sätzen auf. Gleichzeitig motiviert sie mich mit spannenden Geschichten aus dem hiesigen Alltag. Damit gelingt es ihr, mich wieder für diese Sprache zu begeistern, von der ich mir gelegentlich überhaupt nicht vorstellen kann, wie ich sie jemals fließend beherrschen soll.


Kultur, Kaffee und kleine Erfolge

Die Pause nach den ersten anderthalb Stunden ist wohlverdient: So direkt angesprochen zu sein, bedeutet, permanent aufmerksam zu sein und nicht ausweichen zu können. Es hat aber den Vorteil, dass Tricks uns nicht weiterhelfen. In einer Kultur, in der es so viele Tabuthemen gibt wie in der asiatischen, ist ein weiterer, entscheidender Pluspunkt, dass wir in der Schule fragen können, was immer uns interessiert und nicht gleich Gefahr laufen, in ein Fettnäpfchen zu treten. Wenn man dann noch erste Erfolge beim Einkaufen oder Verhandeln des Preises für eine Tour vorzuweisen hat, macht das Lernen gleich wieder viel mehr Spaß.


Feilschen auf Indonesisch – Schauspielstunde im Alltag

Beim Aushandeln eines Fahrpreises ist es nicht nur erforderlich, die Zahlen bis 100.000 zu kennen, sondern auch über ein gewisses schauspielerisches Talent zu verfügen. Am besten ist es, wenn man in gespielter Empörung den erfragten Fahrpreis weit von sich weist und vorgibt, lieber zu laufen, als eine solch horrende Summe zu zahlen. Der Fahrer folgt dann und minimiert sein Gebot, sodass man getrost einsteigen kann.

Nach dem gleichen Muster gingen wir auch gestern vor, als ich mit Naomi, der rastagelockten Engländerin aus meinem Homestay, zum ersten Mal zur Jalan Malioboro, der größten und bekanntesten Hauptstraße Yogyakartas, fahren ließ. In dem Becak genannten, dreirädrigen Gefährt fühle ich mich stets wie eine Galionsfigur, die auf einem gut gepolsterten Sitzbänkchen zum Schafott gefahren wird. Hinten strampelt sich der Fahrer, trotz aller Hitze und Mühen lächelnd, ab. Gern stellen sie bei roter Ampel das Gefährt wie einen bockbeinigen Esel quer in den massiven Gegenverkehr. Jedes Mal aufs Neue wundere ich mich, dass die anderen es schaffen, uns zu umfahren.


Begegnungen zwischen Märkten und Missverständnissen

Kaum ausgestiegen, fanden Naomi und ich uns in einem Trubel von Marktständen wieder. Von allen Seiten fragte man uns: „Ke mana?“ – „Wohin des Weges?“ –, eine Frage, die eigentlich keiner aufrichtigen Antwort bedarf. Alternativ fragt man: „Dari mana?“ (Woher?). Darauf ehrlich zu antworten, bedeutet, dass wir sofort in ein Gespräch verwickelt werden, denn jeder Zweite hat irgendeinen Verwandten in Deutschland, und man kann sicher sein, dass wir als Nation mit Komplimenten bedacht werden.

Naomi, die Engländerin, fällt wegen ihrer Rasta-Locken und ihrer Größe extrem auf. Frauen starren sie mit offenen Mündern an, Männer nutzen den willkommenen Anlass, ein Gespräch zu beginnen. Mit wem wir länger schwatzen, entscheiden wir nach dem Zufallsprinzip. In all diesen Unterhaltungen erkenne ich entsetzt, wie unterschiedlich die Hochsprache, die ich in der Schule lerne, von dem ist, was Naomi bei einem früheren Aufenthalt in Indonesien auf der Straße gelernt hat. Mit meinem Schulindonesisch bin ich für alle als „baru“, als Neue, erkenntlich und handele mir dafür wohlgesonnenen Spott ein.


Shoppingerfolge und Größenprobleme

Bei meinem heutigen Stadtbummel, den ich allein meisterte, schaffte ich es immerhin, eine passende Hose zum denkbar günstigen Preis von 25 Euro zu erstehen. Doch fürchte ich, die Cordhosen, die ich mir gekauft habe, könnten etwas warm werden. Andererseits war die Auswahl, auf die ich zurückgreifen konnte, nicht besonders groß.

Es gibt durchaus schöne Mode, besonders mehr oder weniger gute Imitate von Marken-Shirts und Jeans sind überall zu haben – das Problem besteht eher in den verfügbaren Größen. Sätze wie das zunächst unaussprechlich scheinende „Ukuran celana saya M“ fallen mir fast schon leicht, nur nutzt das relativ wenig: Die Größen hier fallen einfach ganz anders aus oder es gibt sie gar nicht erst. Kein Wunder, denn indonesische Frauen und Männer sind fast immer um einiges zierlicher als jedes europäische Supermodel.


Alltag als Sprachlehrbuch

Zum Lernen sind all die Einkaufserfahrungen sehr interessant, denn ob man mit dem Taxi- oder dem Becak-Fahrer spricht oder mit der Marktfrau um die Früchte feilscht – es bietet sich immer an, ein paar Vokabeln in Landessprache parat zu haben und so den Schwatz um den Handel herum genießen zu können. Nachdem man die erste Hürde, die eigene Schüchternheit, überwunden hat, kann es sehr viel Spaß machen, denn die Indonesier sind in der Regel außerordentlich freundlich.

Nicht zuletzt sind die Menschen hier sehr freizügig mit ihren Komplimenten: Der realistischen Sprachkenntnisse ungeachtet wird man sich immer wieder sagen lassen dürfen, dass man sehr gut Indonesisch spreche.


Klangteppich der Stadt – Vom Muezzin bis zur Melodie-Hupe

Ebenfalls interessant, aber durchaus nicht immer spaßig, sind die zahllosen Geräusche: nachmittags, abends und nachts sind da die jaulenden Muezzine. Da wir Tür an Tür zur Moschee leben, haben wir ein Ranking für die Minarettsänger eingeführt. Es reicht von Starbesetzung bis hin zu liebeskrank scheinenden Provinzchorknaben.

Unter diesen Sängern haben wir, ebenso wie unter den Straßenverkäufern, unsere Favoriten. Letztere singen nicht, dafür haben sie die nervtötendsten Melodie-Hupen und Geräuschvarianten, die man sich vorstellen kann. Das reicht vom gekrähten „Good morning, please wake up“ bis hin zu einer unerträglich gequietschten Coverversion von „La Bamba“.

Wir fragen uns oft, wie die Besitzer dieser Eis-, Nudel-, „Es-Campur“- oder „Nasi-Goreng“-Wagen diese ununterbrochen dudelnden Sounds abends aus ihren Köpfen bekommen. Haben sie denn keine Albträume von diesem täglichen Auf und Ab, diesem Soundterror? Nicht besser gestellt sind die Straßenverkäufer, die es noch nicht einmal bis zu einem fahrbaren Untersatz gebracht haben. Sie schieben einen Karren vor sich her und klopfen mit diversen Stöcken oder Metallen in verschiedenen Takten an ihre Lenkstangen. Auch sie haben ganz klar voneinander abgrenzbare Rhythmen. Nicht mehr lange, und ich kann genau sagen, wer welches Gericht liefert, ohne vom Balkon hinabsehen zu müssen.


Musik, Märkte und Mitbewohner

Ein weiterer Quell der Inspiration sind all die Radiosender; sie spielen eine heiße Mischung aus westlicher Musik, unterbrochen von ekstatischen Moderatoren. Das Repertoire umfasst die Bee Gees ebenso wie Cat Stevens, Elvis rangiert auch ziemlich weit oben. Hinzugemixt werden indonesische Coverversionen von Beatles-Songs und anderen Balladen aus den 60ern. Denkt man sich eine gehörige Portion herzzerreißender indonesischer Lieder hinzu, so hat man eine gute Vorstellung. Immerhin ist dieser Mix brauchbar, meine Sprachkenntnisse aufzubessern.

Einer, dessen Namen man auch ohne Lehrer versteht, weil er ihn lauthals herumkrakelt, ist unser Haus-Tokeh. Hierbei handelt es sich um eine Art großen Gecko, der uns den Schlaf raubt und gegen vier Uhr startet – das ist aber ohnehin die Zeit, zu der das Hausmädchen beginnt, Geschirr zu spülen und Wäsche zu waschen.


„Selamat belajar!“ – Frohes Lernen im Lärm des Lebens

Wie fast alle Indonesier singt sie gern und – neidlos zugestanden – auch sehr gut, nur eben ziemlich laut. Wahrscheinlich gewöhne ich mich auch daran. Bis dahin stehe ich eben mit dem Hauspersonal auf, mache mir einen Tütencappuccino, setze mich mit dem Vokabelberg auf den Balkon und versuche, aus den Geräuschen und Sprachfetzen herauszuhören, was mir vertraut erscheint.

„Selamat belajar!“ (Frohes Lernen!) ruft die Nachbarin, und ihr Lachen verliert sich im Straßenlärm.

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