Sissy Lippitz mit einem Centralasiaten am Zaun
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Wo in Not geratene Herdenschützer selbst Schutz finden

Seit der Rückkehr der Wölfe werden immer häufiger Herdenschutzhunde als Allzweckwaffe gegen die Beutegreifer gepriesen. Doch nicht jeder geht mit der Vermittlung der anspruchsvollen Hunde verantwortungsvoll um. Und dann gibt es plötzlich jede Menge Kaukasen, Zentralasiaten oder Kangals, die durch Vermehrer und schlechte Haltung selbst zu komplizierten Fällen geworden sind. In ihrer „Secure Base – Kompetenzförderung für Herdenschutzhunde und Halter“ geben Sissy und Konrad Lippitz Hunden, die selbst zu Schutzbefohlenen wurden, ein neues Zuhause. Dank Sachverstand, klaren Regeln und lebenslanger Begleitung mussten sie in 20 Jahren keinen einzigen Vermittlungsfall zurücknehmen.

Wolfsgruppe in einem Wildgehege

„Der Wolf kommt nicht, er ist da. Und das nicht erst seit gestern und er fiel auch nicht vom Himmel. Seit Jahren wird so getan, als müssten wir uns auf eine Wolfsrückkehr vorbereiten. Herdenschutz mittels dazugehöriger Hunde wird entweder komplett ignoriert, weil die Landwirte bitteschön einfach die Zäune erhöhen sollten. Noch mehr ärgert mich, wie in Pyrenäenberghundweiß eine Schaf-Hund-Kuschel-Romantik auf die städtischen Fernsehbilschirme gepinselt wird. Legenden und Mythen über Herdenschutzhunde füllten wahrscheinlich mehr Seiten als die Nibelungensaga. “

Sissy Lippitz unterbricht sich nur, weil ihr Mann Konrad uns die Wagentür aufhält und mitteilt, dass wir angekommen sind. Hier oben, auf 850 Metern, nach einem äußerst steilen, steinigen Anfahrtsweg weiß ich einmal mehr zu schätzen, dass meine Interviewpartner mich mit ihrem Auto in Graz abgeholt und die 80 Kilometer in ihre Kärntner „Secure Base“ chauffiert haben. Ausgeschlossen, dass ich es, wie ursprünglich geplant, mit dem Fahrrad zu unserer Verabredung auf dieser, weit abgelegenen Wolfsberger Arche Lippitz mit ihren vielen geretteten Tieren geschafft hätte.
Für überschwengliche Danksagungen lässt die 40-Jährige keine Lücke: „Herzlich willkommen!“

Sprachlos stehe ich auf dem Plateau, die bergige Landschaft berückend schön wie ein Caspar David Friedrich-Gemälde. Um das mehrfach gesicherte, schwere Holztor zu entriegeln und beiseite zu schieben, muss die 1,68 große Frau sich auf Zehenspitzen stellen. „Kompetenzförderung für Herdenschutzhunde und Halter. Betreten verboten!“ lese ich auf dem Warnschild und höre mehrstimmiges Gebell wie aus überdimensionalen Subwoofern.

Konrad Lippitz mit Herdenschutzhund


Wir passieren einen weiteren Zaun und stehen auf einem zwei Hektar großen Areal. Das sind mehr als zwei Fußballfelder und ich frage, wie sie die 40 Kilo Stabmatten, die Pfähle, den Beton, das Material für die stabil vergitterten Zwinger mit massiven Durchgangsschleusen und die Blockhütten hier hinauf bekommen, vor allem aber, wie sie all das aufgebaut haben. „Freunde, freiwillige Helfer, vieles auch allein. Bandscheibenvorfälle gab es einige, darüber haben wir keine Liste geführt.“ lautet ihre unprätentiöse Antwort. Lakonisch setzt sie nach: „Ich betrachte meinen Körper als Werkzeug, für uns haben die Tiere absolute Priorität.“

Von dieser Einstellung profitieren nicht nur die aktuell hier lebenden 20 Herdenschutzhunde, sondern auch 23, nirgends gewollte Ziegen, vier, als „überflüssig“ abgegebene Schweine, 40 gerettete Hühner und fünf ehemalige Streunerkatzen. „Die meisten wirst du heute noch kennenlernen.“ verspricht sie.
Wir setzen uns unter die CocaCola-Sonnenschirme und ich höre meiner Gastgeberin gebannt zu. Beiläufig nehme ich die beiden, halbwüchsigen, und trotzdem schon tief grollenden Šarplaninac Torryn und Diana im Zwinger direkt vor uns wahr. „Für die beiden werden wir, nach ausreichender Beschäftigung, Sozialisation und der obligatorischen Sterilisation sicher schnell jemanden finden, der ihnen gerecht wird.“
Welche Art von Interessenten sich denn bei „Secure Base“ melden, möchte ich wissen und wie teilt sich eure Vermittlungsquote auf?

Kalila, gerettetes Hundeleben

Es folgt eine Zahl, mit der ich nicht gerechnet habe: „80 Prozent der Interessenten schicken wir relativ zügig wieder weg. Oder ersparen ihnen die Anfahrt gleich nach dem ersten Telefonat. Wer, bevor er sich noch vorgestellt hat, direkt nach Gewicht und Risthöhe giert, katapultiert sich selbst in den Nietentopf. Auch, wer damit einsteigt, wieviel dieser oder jener Hund kostet oder ob man bei uns einen Kampfhund erwerben kann, bekommt den höflichen Hinweis, sich nie wieder zu melden.“ Ihre grünen Augen funkeln, aber Sissys Stimme bleibt ruhig.

„Mehr auf mein Bauchgefühl horchen muss ich bei jenen, die ich die Kuschelbärchenverklärer nenne.“ Das seien jene, die schon immer Golden Retriever oder auch Schäferhunde gehabt hätten und jetzt einer armen Seele ihre ganze Hundeerfahrung angedeihen lassen möchten. Genauer schauen wir hin, wenn Leute bekennen, dass sie keinerlei Erfahrung mit den selbständig, Fremden gegenüber oft misstrauischen Hunden haben. Da sind wir durchaus bereit, jemandem eine Chance einzuräumen. Ohnehin begleiten wir all unsere Schützlinge auch nach dem Einzug in ihr neues Heim, da bietet sich eine umfassende Schulung der Halter an.“

Konrad lugt aus der eigentümlich, mit einem Ziergitter und der Zahl „1968“ versehenen Haustür: „Mögt ihr vielleicht in der kühlen Küche weiter fachsimpeln, bevor ihr in der Hitze verdurstet?“

Herdenschutzhunde

Face-to-face mit einem zentralasiatischen Owtscharka

Herrlicher Kaffeduft empfängt mich, doch ich erstarre an der Küchentür. Unverwandt blickt der 78-Kilo schwere Owtscharka Tican mich mit seinen bernsteinfarbenen Augen an und stellt sich am Gitter mannshoch auf. Sissy lächelt offenherzig. Leicht foppend erinnert sie mich: „Ich hab dir bereits von ihm erzählt und du hast ja Erfahrungen mit Herdenschutzhunden, sagtest du.“ Sie drückt die Klinke unter seinen Pranken herunter und der imposante, braunweißschwarz gefleckte Hund stürmt umstandslos auf mich zu. Der Bursche überragt mich locker um anderthalb Köpfe, als er sich mit beiden Vorderpfoten auf meinen Schoss stützt. Aufgeregt wedelt seine halb über dem Rücken gerundete Rute. Dann, nach einem kurzen Schnüffelcheck, fährt er mir kurz mit seiner rauhen Zunge übers Gesicht und trollt sich in seine Ecke.
Erleichtert und irgendwie berührt greife ich nach meiner Tasse. Eine kleine, wirksame Lektion, denke ich. So schnell werde ich wohl nicht wieder behaupten, mich mit Herdenschützern auszukennen. Selbst, wenn ich schon zwei zu meiner Familie zählen durfte.
Konrad reicht mir schmunzelnd und ungefragt die Milch für meinen Kaffee, da ich wohl immer noch etwas verschreckt aussehe.

Herdenschutzhunde in ihrem eigentlichen Arbeitsumfeld

Bei der Secure Base helfen

„Tican und seine fünf Geschwister nahm man der, als Zuchtmaschine missbrauchten und mit diesem weiteren Wurf völlig überforderten Mutter weg. Gerade mal drei Monate war er alt, als der Tierarzt Bindegewebs-, und Sehnenschwäche sowie Ellbogendysplasie feststellte.“, erklärt er. Und Sissy ergänzt: „Nachdem klar war, dass wir hier Sparbüchsen auf vier Beinen aufgenommen haben, entschlossen wir uns, diese Hunde nicht abzugeben.“

Obwohl man der 40-Jährigen anmerkt, wie nahe ihr all das geht, redet sie sich nicht in Rage. Mehr als zwanzig Jahren Erfahrung mit, in Not geratenen Owtscharka, Centralasiaten und ähnlichen Kandidaten haben Sissy auch gelehrt, wie wichtig es ist, Menschen aufzuklären. Wieder und wieder die Zusammenhänge verständlich zu machen.

Konrad und Sissy Lippitz

Während Konrad gleichzeitig mit dem Kochen des Hundefutters und der Vorbereitung unseres Tafelspitzes beschäftigt ist, lässt Tican ein zufriedenes Schnaufen hören und Sissy berichtet, wie sie in Klagenfurt Psycholgie studierte und damals vom örtlichen Tierheim eine angebliche Labradormixdame übernahm: „Aufgeben kam für mich schon damals nicht in Frage. Auch wenn ich, im wahrsten Sinne des Wortes, ganz unten, nämlich der Länge nach von meinem Hund zu Fall gebracht, landete. Ich habe unzählige Telefonate geführt, bin zu Trainern, Experten und solchen, die sich selbst für solche hielten, gefahren. Habe Viehzüchter besucht, die solche Hunde einsetzten. Mir wurde klar, dass die Genetik dieser Rassen seit Jahrhunderten vom Zuchtziel doktriniert war, absolut selbständig Beutegreifer oder Viehdiebe abzuwehren, ohne erst jemanden zu fragen, ob sie Sitz, Platz oder Fuß machen sollen.“

Herdenschutzhund bei der Arbeit

Fatale Stichworte: Hinterhofwelpen, Zuchtmaschinen, Beißvorfälle

Draußen ertönt wieder der Chor, eine Klingel ist hier oben definitiv überflüssig. „Das wird die Bauabnahme der neuen Notfallhütte sein. Nächste Woche soll ein, von den Tierheimmitarbeitern nicht mehr handelbarer Do Khyi bei uns einziehen.“, lotst Sissy mich hinaus, ohne unser Gespräch grundlegend zu unterbrechen.

„Unsere Wartelisten sind rappelvoll, momentan stehen 30 Namen darauf. Mehrere der, von Behörden Beschlagnahmten haben eigentlich bereits den Stempel »Euthanasie wegen Unvermittelbarkeit« in ihren Akten. Diese versuchen wir vorrangig zu integrieren. Tierheime in Österreich und Deutschland, mit denen wir kooperieren, haben oft keine adäquaten Unterbringungsmöglichkeiten oder die Mitarbeiter sind, verständlicherweise, mit der Betreuung der auffällig gewordenen Spezis überfordert. Hintenan stehen bei uns die, leider ebenfalls zunehmenden »Hoppala-Welpen«. So nennen wir Tiere, die entweder aus angeblichen Zufallswürfen oder von Vermehrern stammen und meist über Kleinanzeigen zu schnellem Geld gemacht werden sollen.“

Ich versuche mit ihr Schritt zu halten, werde von Ziegen neugierig angestupst, und bange, ob das Hundegebell, Hühnergackern und Schweinegrunzen meine Interviewaufnahmen nicht übertönt und unbrauchbar macht.
„Die Geschichten hinter den Anfragen sind oft sehr, sehr ähnlich.“ Ihre Stimme bekommt eine traurige Nuance: „Ein Paar mit einem alten Labrador gibt einem, laut Schutzvertrag „Schäferhund-Labrador-Mix“ aus dem Tierschutz ein Zuhause. Der sieben Monate alte, bereits kastrierte und natürlich sozial verträgliche Neuling war zunächst etwas unsicher und knurrte, wenn er den anderen Hund sah. Keine Woche später stürzte sich der Zugezogene auf seinen Konkurrenten. Als der Hausherr den Angreifer stoppen wollte, wurde er ernsthaft gebissen.
Eine andere Organisation freut sich, eine neun Monate alte Golden-Retriever-Mix-Dame an eine Familie mit zwei Kleinkindern in gute Hände zu geben. Futteragression könne man in diesem Alter ganz einfach und schnell in einer Hundeschule abtrainieren, wird den skeptischen Ersthundebesitzern geraten. Nur lehnen mehrere Trainer diesen Kangalmix mit der Begründung „Nichterziehbarkeit“ ab. Es dauert keine vier Tage, da stellt und attackiert die Hündin die fünfjährigen Töchter, sobald sie sich der Fressecke nähern.“

Pyrenäenberghund auf der Alm (Schweiz)


Ouvertüren von abgemagerten Welpen, Hunden, die fürchterlich einsam an Ketten gehalten wurden, die aus der Tötung kommen und ihren neuen Besitzern meist unheimlich leid taten. Der Auftakt zum immer gleichen, lästigen Ohrwurm: Spießrutenlauf für die Halter, kein normaler Alltag mehr. Besuche beim Humanmediziner oder Veterinär. Schwerste Verletzungen, traumatische Erfahrungen. Epilog: Das Problem muss weg. Und zwar so schnell wie möglich!
„Im Abspann kannst du dann lesen, dass der eine oder andere schwierige Fall weitervermittelt wurde. Von den anderen hörst du nie wieder.“
Als sie sich ihre dunklen Haare zu einem Zopf zusammenknotet, fallen mir die Ringe unter ihren Augen auf und mir wird bewusst, dass beide Lippitz all das hier in Schichten neben ihren 40-Stunden-Jobs stemmen. Nicht nur Geschichten, sondern auch jede Menge Zahlen flattern mir durch den Kopf: „Die Welpenaufzucht letztes Jahr hat 7.000 Euro verschlungen, an Futter kommen monatlich 600 Kilogramm zusammen, Tierarztkosten kann man nie vorhersagen. Der, vom Amtstierarzt aus Schikane geforderten Drittumzäunung können wir nur Folge leisten, wenn wir weitere 10.000 Euro beschaffen, aber auch nur, wenn wir alles selbst und mit ehrenamtlichen Helfern gießen, zementieren, schleifen.“ Obwohl die Kosten deutlich höher sind als für eine Kastration, besteht „Secure Base“ darauf, dass all ihre Tiere per Sterilisation zeugungsunfähig gemacht werden, ohne deren Hormonhaushalt zu verändern.

Lichtblick für einen fast aussichtslosen Fall

„Weil du vorhin wissen wolltest, ob ich jemals an einem Hund verzweifelt bin. Ja, bei Jordi, den ich dir gleich vorstellen werde, war es fast soweit. Er wurde gleich mehrfach beschlagnahmt und kam aus einem Tiroler Tierheim zu uns. Wie Hannibal Lecter aus das „Schweigen der Lämmer“, betäubt, mit Stricken gesichert, wurde er von einem Amtstierarzt und seinem Tierpfleger auf einer Trage in den Zwinger gekarrt. Monatelang mussten wir das Futter über ein Schleusensystem hineingeben. Niemand konnte sich ihm mehr als ein paar Meter nähern.“

Als wir die Anhöhe zum komplett eingezäuntem Haus des Kaukasen erklommen haben, entdecke ich ihn. Wie ein irrer Derwisch springt das völlig zerzauste, verfilzte Bündel unablässig bellend gegen das Gitter und wirkt dabei entsetzlich unglücklich. Nicht, wie ein souveräner, wachsamer Hund. Eher, wie eine gebrochene Seele, die man als gefährliche Waffe ohne Sinn und Verstand deformiert hat. „Meine 15-jährige Tochter Syrina hat ihn nach einigen Monaten dann erreicht. Mittlerweile kann sie ihn sogar streicheln.“

Herdenschutzhund Italien

Mutterstolz und die Freude über diesen Fortschritt schwingen mit. „Immerhin darf ich ihm nun auch schon das Futter hinstellen.“ schmunzelt Sissy und wird schnell wieder ernst. „Diese Kontaktaufnahme ist in seinem Fall umso wichtiger, weil für ihn bei uns seine Endstation ist. Jordis Todesurteil konnten wir nur abwenden, weil wir die megastrengen Auflagen akzeptiert haben. Dazu gehört, neben der Sicherungsverwahrung in einem komplett geschlossenen Zwinger, dass er unter keinen Umständen jemals weiter vermittelt wird.“

Das heisere Bellen Jordis hallt uns nach, als Konrad den Gutachter verabschiedet hat und sich, Tican im Schlepptau, zu uns gesellt. Inmitten dieser üppig blühenden Wiese wirft sich der Owtscharka auf Konrads Schoß und lässt sich genüsslich den Bauch kraulen. „Unbezahlbar, solche Momente,“ sinniert der muskulöse, breitschultrige Mann, der als Installateur beim Klagenfurther Magistrat arbeitet.

„Und dennoch, manchmal wünschte ich, dass wir all das hier nicht bräuchten.“ Sissy errät meine Frage: „Wer einmal erleben durfte, mit welchem Stolz sie ihre Herde schützen, wird verstehen, weshalb ich sie am allerliebsten dorthin bringen würde, wo sie

hingehören. Keiner von ihnen hat es verdient, in Zwingern oder Wohnungen zu vegetieren. Ich würde all unseren Schützlingen ein Leben an den Orten ermöglichen, wo sie die sein dürfen, die sie wirklich sind: in Freiheit und nützlich mit ihren Talenten und ihrer Bestimmung.“

Ganz oben, in dem vollvergitterten Gehege entdecke ich auf einmal zwei wild umhertollende Gestalten. Sissys Tochter rollt sich mit wehenden blonden Haaren, lachend mit dem struppigen Jordi den saftig grünen Abhang hinunter. Die beiden blauen Sicherungsleinen schleifen wie Geschenkbänder hinterdrein.

Sissy Lippitz mit einem Centralasiaten am Zaun

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