The shoe project: erzählt Geschichten von Hilfsbereitschaft und Freundschaften am bunten Faden herrenloser Schuhe
Reisen ist wie Fliegen mit einem Doppeldecker. Die oberen Flügel tragen meine Freunde, das untere Paar ich selbst.
Alles begann 2019 mit einem Kurz-Job auf Sizilien. Dass ich mit meiner Hündin Yoshi ein ¾ Jahr in Italien, Deutschland und mit einem extra designten Cargobike auf dem Donau-Radweg unterwegs sein dürfte, ahnte ich nicht. Geplant war es erst recht nicht.
Weil mir auch diese Reise so viele inspirierende Begegnung mit hilfsbereiten, besonderen Menschen geschenkt hat, möchte ich gern mit den erzählten Geschichten etwas zurückgeben.
Teil 2: Thailand
Daumenkino besuchter Orte
Sie sprechen auch Indonesisch, vielleicht wissen Sie das nur nicht.
Ein paar Brocken mindestens.
Mit Sicherheit ist Ihnen „Orang-Utan“ ein Begriff und auch mit Mata Hari können die meisten Leser*innen etwas anfangen. Gut, ich gebe es zu, die Tänzerin und Spionin ist nicht gemeint, wenn Indonesier sie erwähnen. Vielmehr geht es in beiden Fällen um zusammengesetzte Sprachbilder.
Das Tier ist demnach benannt als der „Orang“ = „Mensch“ und der „Wald“ = „hutan“ – verknappt ist der Waldmensch also der „Orang Utan“. „Hari“ ist der „Tag“ und „mata“ entspricht unserem deutschen Wort für „Auge“.
Schön und simpel zugleich: Die Sonne ist das Auge des Tages.
Indonesische Witwe mit deutschem Käfer mexikanischen Ursprungs
Drei Monate im Sommer 2004 durfte ich in Yogyakarta diese Bahasa Indonesia, also die Staatssprache Indonesiens mit wirklich engagierten, kreativen, lustigen Menschen lernen. In der „Wisma Bahasa“ kochten, tanzten, schauspielerten wir. Gemeinsam bereitete ich mich mit anderen Volontären auf einen Menschenrechtseinsatz in Aceh vor. Das Vokabel-Büffeln fiel dann auf den Nachmittag in meinem winzigen Kämmerlein.
Dort, in den sechs Quadratmetern, in denen ein Bett und ein Tisch standen, beide quollen von meinen Büchern über, versuchte ich zwischen Englisch und Indonesisch hin und her zu trollen wie eine Katze in fremden Revieren.
Genau betrachtet wohnte ich in einer Wohngemeinschaft, die wohl ihresgleichen sucht. Meine Vermieterin ein Unikum in den Mittsechzigern hatte in ihrer Geschäftstüchtigkeit einfach die frühere Werkstatthalle ihres verstorbenen Mannes zu einer Art Hostel umfunktioniert. Von dem, etwa zehn Meter langen, Wellblech überdachtem Tunnel gingen jeweils rechts und links versetzt winzige Kemenaten ab. Und meine acht Mitbewohnerinnen knatterten jeden Nachmittag mit ihren Mofas bis an ihre Zimmertüren, parkten das Gefährt qualm umhüllt und kicherten unter ihren Hijabs. Diese muslimischen Kopftücher waren ihr Ersatz für die nicht vorgeschriebenen Motorradhelme.
Einen Teil meines erlernten Wortschatzes bezog ich tatsächlich aus indonesischen Televisonen. Vor allem aus Sendungen, in denen regelmäßig Verkehrsunfälle und Geisterscheinungen dokumentiert wurden. Herna, meine fuchsschlaue Herbergsmutter achtete auf ihre Küken, wie sie die Mädchen nannte. Mit mir pflegte sie, weil ich ja eine Langnase war, einen erwachseneren Umgang und ließ mich gelegentlich bei ihr fernsehen. Sie schien mich eher als mögliche Geschäftspartnerin zu betrachten. Eines Nachmittags lockte sie mich unter irgendeinem Vorwand in ihre mondäne Villa. Angenehme Kühle empfing uns, die ich in meinem Mini-Internats-Gemach manchmal vermisste. Herna schien beglückt, als sie die Tür zu einem, unter dem holzverzierten Treppengeländer öffnete.
„VW!“ schubste sie mich fast etwas zu aufgeregt auf das silbern glänzende, hochglanzpolierte und mit Ledersitzen plus Mahagoni-Lenkrad Auto zu.
„Volkswagen! Käfer!“ Ihre Aussprache spitz und hoch wie bei einer adligen Jungfer. Sprachlos starrte ich auf den Oldtimer, den sie wie einen geheimen Liebhaber streichelte. Tatsächlich, sage und schreibe, sie küsste ihn mehrfach auf die runde Motorhaube.
Ob ich ihr helfen könne, den nach Deutschland zu verkaufen? Diese Frage erschien mir angesichts der Geschichte dieses 30 Jahre alten Automobils, die sie mir gerade ausführlich in Englisch und Indonesisch geschildert hatte, fast plump. Der Wagen war von ihrem Mann 1955 in Mexiko bestellt und nach langen Wochen bangen Wartens endlich am Strand in Empfang genommen worden. Gemeinsam mit zehn seiner Kumpels hatten sie das Schmuckstück über den Sand getragen. Heimgebracht wie das Findelkind nicht zeugungsfähiger Eltern. Jeden Samstag war er mit ihr hinausgefahren. Viele Stunden hatten sie von ihrem „Käferle“ aus auf das Meer geschaut. Nein, sie waren nie ausgestiegen. Nur für das Picknick wählten sie, weil sie die Sitzleder nicht beschmutzen wollten, zwei mitgebrachte Höckerchen aus zusammenklappbarem Bambus.
Ungelenk versuchte ich zu verdeutlichen, dass zwar vielleicht ein betuchter Sammler in Deutschland bereit wäre, eine, ihr genehme Summe springen zu lassen. Dass ich aber gar nicht zu berechnen vermochte, wie schwer der Transport ins Kontor schlagen und ihre Pläne zunichtemachen könne. Sie schien ziemlich enttäuscht. Ich versprach ihr, mich via E-Mail bei meinen Freunden in Deutschland schlau zu machen.
Keine vier Tage später erfuhr ich von Hernas Tod. Ohne, dass ich herausfinden konnte, woran die lebenslustige, rundliche Frau, die mich immer an die Venus von Willendorf erinnert hatte, gestorben war. Auch, was aus ihrem geliebten Oldtimer wurde, erfuhr ich nie.
Und ich musste ein neues Domizil finden.
Richtungswechsel, gedrehter Globus
Aceh, auch die Veranda Mekkas genannt, die um Unabhängigkeit ringende, westlichste Provinz Indonesiens, war seit den 1970ern bestrebt, sich von Indonesien zu lösen. Genau dieser Befreiungskampf beziehungsweise die, von Jakarta ausgeübte Gegenmacht schien es für unseren Peace-Brigades-Einsatz unmöglich zu machen. Wir würden nicht in die Bürgerkriegs-Provinz eingelassen werden.
So war ich zunächst, weil ich nicht nutzlos in einer Villa mit Swimming Pool in der Hauptstadt Jakarta herumhocken wollte, ziemlich desillusioniert nach Hamburg zurückgekehrt.
XXXmess statt Xmas – Weihnachten ohne Freude
Und dann, am 26. Dezember traute ich den Nachrichten, die da über die ganze Welt ergossen wurden, kaum. Zunächst berichteten ARD und ZDF, wie so viele andere Medien, über Thailand. Und stündlich überschlugen sich die Zahlen. Die Zahlen der Toten, Vermissten, die der Länder, aus denen die Opfer stammten. Ein heilloses Durcheinander, obwohl wir doch mit unseren Keksdosen und Kaffeetafeln und Mittagsbraten vor dem großen Fernseher auch einfach zu „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ umschalten hätten können. Je mehr Landkarten eingeblendet wurden, desto mehr suchte sich die Erkenntnis im gesamten und nie fassbaren Erschrecken ihren Weg.
Facebook war damals gerade erst im Februar dieses schicksalsträchtigen Jahres gegründet worden und ich noch nicht Mitglied. Ich konnte also nicht schauen, welche Freunde und Bekannte sich als „in Sicherheit“ gemeldet hatten.
Im Netz fand ich trotzdem irgendwann die wissenschaftlichen, nicht emotional getünchten Hyperhyper-Nachrichten:
„Ein schweres Seebeben der Magnitude 9 (USGS) vor der indonesischen Insel Sumatra erzeugte am 26.12.2004 mehrere Flutwellen. Der Tsunami verursachte in den Ländern Indien, Thailand, Malaysia, Indonesien sowie Sri Lanka und den Malediven zum Teil schwere Verwüstungen. Selbst die afrikanische Küste der Staaten Somalia und Kenia waren von den Ausläufern des Tsunamis betroffen. Nach Medienberichten sind mehr als 280.000 Menschen ums Leben gekommen und mehrere Millionen obdachlos geworden. Am stärksten betroffen sind die Ostküste Sri Lankas, die westthailändische Ferienregion um Phuket und die im Norden der indonesischen Insel Sumatra gelegene Region Aceh.“ BGR Erdbebenüberwachung
Wenn Trauer-Gondeln einfach weggespült werden…
Klebte ich nicht vor dem Fernseher, las ich. Und recherchierte im Netz. Wie es um Yogyakarta stand, wie es Freunden ging, mit denen ich noch vor wenigen Monaten in Entdeckerlaune, Plastiksandalen und dem Glauben durch die indonesische Inselwelten getrollt war, es mit einer Super Nova meines künftigen Lebens zu tun zu haben. Jeden Tag hielt ich mir nun, nach diesem unüberschaubaren Unglück aus Erdbeben, Tsunami und fehlendem Warnsystem ohne fassbaren Namen zugute, dass ich doch ein bisschen die Sprache konnte, dass ich Menschen dort kannte, dass ich doch irgendwie würde nützlich sein können? Wobei?
Ich wusste es nicht. Aber vor diesem TV-Bildschirm – wohlgenährt zwischen zerfetzten Geschenkverpackungen – zu hocken, kam mir wie Frevel vor. Immer besessener suchte ich im Netz, ließ die gemeinsamen Mahlzeiten ausfallen und beamte mich gedanklich als Retterin in die Verwüstung. Ich würde Kinder an die Hand nehmen, in Krankenhäusern aushelfen, ich würde Verbände anlegen, …Tote beerdigen. Wirklich?
Nun ja, ich hatte auf Friedhöfen und in Altersheimen gearbeitet. Der Tod war mir kein Fremder. Nur eben, ertrunkene Körper sind ganz sicher keine friedlich dahingegangenen Menschen auf Anti-Dekubitus-Matratzen.
Meine verzweifelte Suche, wie ich, ohne Schaden anzurichten, ein wenig mithelfen könnte, führte mich glattweg auf den Leim eines klebrigen Betrügers. Diesem traurigen Kapitel um den Millionenbetrüger möchte ich an dieser Stelle keinen Raum einrichten.
Sandalen des Mönchs
Meine Erinnerungen springen an den Silvestertisch meiner Freundin Suhela und zum Jahreswechsel 2004 auf 2005. Bedrückt und unschlüssig hockten wir um die köstlich aussehenden und liebevoll servierten Speisen. Einer der Gäste hatte namibisch-deutsche Wurzeln und hatte Perlhirse-Suppe gekocht. Eine Frau war chilenischer Abstammung und bereicherte die Tafel mit Empanadas, gefüllten Teigtaschen. Meine Freundin und ich waren mit unserem selbstgemachten Kartoffelsalat angerückt und jeder neue Gast gesellte ein Mitbringsel lukullischer Art hinzu. Trotzdem wollte keine Feststimmung aufkommen. Uns sitzen die Tsunami-Magnitude-Beben-Ziffern in den Knochen.
Sagt man so, aber eigentlich wabern all die Informationen diffus durch unsere Systeme.
Wir könnten essen, mit dem Wein und Sekt anstoßen, aber etwas hat uns die Sprache verschlagen. Und die Liebe, die durch den Magen geht, stottert an merkwürdigen Moral-Glaubens-Sätzen herum. „Nachher kommt, vielleicht Susanne noch dazu.“ Suhelas Stimme ist noch brüchiger, als ich sie ohnehin schon immer kannte. Sie stammt aus dem Iran und trägt, glaube ich, ein schweres Foucaultsches Pendel an Lebensausschlägen mit sich herum.
„Susanne,“ fährt die Gastgeberin fort: „hat das Unheil in Thailand überlebt. Sie ist ohne ihren Sohn nach Hause gekommen.“ Mir bleibt die Feige an der Zunge kleben.
Und dann läutet es an der Tür. Gebannt lausche ich auf die Schritte, die unser letzter Gast die fünf Etagen hinaufsetzt. Ich kann kein Trittmuster und keine Atemschwellen erkennen. Fast geräuschlos schwebt da jemand heran. Steht vor mir. Eine Elfe, denke ich. Fasziniert. Und geschockt gleichzeitig.
„Leider hatte ich nichts im Haus, was ich hätte mitbringen können.“ Fast tonlos, aber dennoch irgendwie froh. Diese Stimme, so filigran wie die Frau, die mich direkt anschaut. „Zwei Stunden hab ich nachgedacht, jetzt weiß ich, ich muss meine Geschichte erzählen. Das ist es, mein Gastgeschenk.“
Perplex rücke ich beiseite und folge ihr ins Wohnzimmer.
Für mich ganz unvermittelt steht Susanne auf. Fast scheint sie zu tanzen.
Ohne Vorrede beginnt sie: „Mein Sohn Felix und ich hatten zum ersten Mal seit dem Gerichtsprozess mit meinem Ex, seinem Vater Zeit miteinander. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, ich hätte mich einfach nur gefreut.“
Suhela zischelt in mein Ohr: „Ist sie nicht wunderbar? Sie leitet das Tanzstudio nebenan. Ich bin so froh, dass sie gekommen ist.“
„Felix war sauer, dass er mit mir nach Thailand reisen soll“ erzählt die Ballettmeisterin freimütig. Er hatte so lange bei seinem Vater gelebt und fürchtete, in langen zwei Wochen mit mir auf alles verzichten zu müssen, was ihm heilig ist. Auf dem Flug von Hamburg nach Bangkok hatte er demonstrativ in seinen Comics geblättert. Aber die Hotelanlage auf Ko Phi Phi Island schien ihm zu gefallen. Sie boten WLAN in ausreichender Bandbreite, sein Urlaub schien gerettet.
Nach und nach fanden wir in einen Tagesablauf, der uns beiden entgegenkam. Während ich meditierte, schlief er lange und wir trafen uns dann zum Frühstück am Pool. Ich ging allein an den Strand. Wenn ich vom Schwimmen zurückkehrte, nahmen ließen wir uns auf unseren Luftmatratzen auf dem Poolwasser treiben. Langsam gewährte er mir ein paar Einblicke in den Alltag eines Fünfzehnjährigen.“
Suhela, aufmerksam und beflissen, reicht ihrer Freundin ein Taschentuch. Susanne wischt sich die Tränen verlegen weg und fährt fort: „Weihnachten? Ihm egal. Mir eigentlich auch. Wir machten uns über die Christbäume aus Plastik lustig, die von den Thais überall auf dem Buffet und sogar an den aufblasbaren Sesseln montiert waren.
Am Morgen des zweiten Feiertages, als ich gerade duschen wollte, fiel der Strom aus. Dann würde ich eben doch ins Meer gehen.“
„Mama,“ als sei sie immer noch selbst verwundert über die Ansprache, wechselt Susannes Tonfall in eine weiche Melodie. „Felix hatte mich schon ewig nicht mehr so genannt. „Hörst du das?“ „Hatte er gefragt, und natürlich habe auch ich das unglaubliche Rauschen wahrgenommen. Zeit, uns über irgendetwas Gedanken blieb uns nicht, denn wir wurden von der Welle aus unserem Bungalow hinausgerissen.“
Dankbar nimmt die Erzählerin das angebotene Glas Wasser. „Es ist so, so,…..ja, tatsächlich ver-rückt, im wahrsten Sinne des Wortes,“ schaut sie in unseren Kreis, ohne uns zu sehen. Fast stimmlos kommt das Wort: „Wasser.“
Wasser. Energie folgt der Aufmerksamkeit
Natürlich hat jeder der sechs Gäste hier im Zimmer Bilder vor Augen. Aber unsere sind durch
Fernsehberichte gefiltert.
Susanne schmeckt, riecht, schluckt Wasser. „Hörte ich die Menschen schreien?“ scheint sie sich selbst zu fragen. „Schrie ich?“ Ratlos zuckt sie die Schultern. „Ich weiß es nicht. Die kratzige, aufgeraute Palmenhaut kann ich fühlen, weil sie mich für Stunden getragen hat. Es war ein Rest eines Stammes, der mir wie Noahs Arche vorkam. Am anderen Ende krallte John sich fest. Sein Gesicht blutverschmiert. Bitterlich wimmernd berichtete er mir von Marcie, der er nächste Woche einen Heiratsantrag machen wollte. In Brighton sollte dann im Hotel seiner Eltern richtig groß gefeiert werden.“ Verlegen lächelt Susanne zum ersten Mal, seit sie hereingekommen ist: „Ihm war erst Stunden später aufgefallen, dass er mich noch gar nicht gefragt hatte, wer ich sei. Das machte nichts, denn zwischendurch war ich immer wieder in eine Art Bewusstlosigkeit gefallen, er hatte mich zwischen seine Arme geklemmt, damit ich nicht davon geschwemmt wurde.
Wir tauschten unsere Geschichten wie Rettungsanker. Und irgendwie half uns das auch, die Hilfeschreie der Vorübertreibenden zu ignorieren. Aussichtslos, jemandem zu helfen. Ein Teil meines Hirns versuchte konzentriert, mich mit Felix zu verbinden. Wie ich es in der Meditation geübt hatte, fokussierte ich mich auf einen Lichtstrahl, den ich meinem Jungen schickte.“
Keiner der Anwesenden bewegt sich mehr als nötig, nur gelegentlich hier und da das kurze Klirren eines abgesetzten Glases auf dem Tisch.
„Johns Hosenträger, mit dem er uns beide gesichert hatte, riss, als unser Palmenvehikel an eine Hauswand knallte, die aus dem Wasser ragte. Und dann seelenruhig mit mir daran entlang schredderte. Dann war ich allein.“ Ihre Stimme bricht mit dem Fortschreiten der Ereignisse: „Nein, das ist nicht richtig. Allein war ich nicht. Auch, wenn John aus meinem Blickfeld entschwunden war.
Wie soll ich das nennen, ich sah Menschen. Mehrere. Nur eben, sie lebten nicht.“ Jetzt erst fällt mir auf, dass ein Verband den linken Blusenarm aufspannt wie einen Ballon. Michael klaubt verstohlen eine Schachtel Marlboro aus seiner Hosentasche, aber auch er möchte das Ende der Geschichte nicht verpassen, also dreht er einfach die Zigarette zwischen den Fingern.
Susanne scheint davon nichts zu bemerken: „Jemand zog an meinen Beinen, die leblos aus meinem Körper stakten. Und dann fand ich mich neben schwarzen Säcken auf einer zerbrochenen Marmorplatte wieder. Jemand hatte mich an Land gebracht. Wie lange ich im Wasser gewesen war? Keine Ahnung. Auch, was mich dazu antrieb, aufzustehen und loszuhumpeln, kann ich nicht erklären. Später sah ich meinen Füßen zu, wie sie auf einer heißen, aufgebrochenen Asphaltstraße bergauf stapften. Als gehörte nichts an mir mehr zu mir. Vielleicht war ich ja auch gar nicht mehr ich?
Je höher ich stieg, desto mehr löste sich alles in mir auf. Wie eine Fata Morgana sah ich mich selbst, barfuß und dann kam er mir entgegen. Er war klein, sehr hager und lächelte. Zahnlos und breit. Tatsächlich, ich lächelte zurück. Vielleicht ein wenig auch aus der Verlegenheit heraus, weil mir anhand seiner Kutte bewusst wurde, dass ich nur noch den Hauch eines Sarongs trug. Genau gesagt, klebten ein paar Zentimeter zerfetzten Stoffes über der Hüfte. Evas Kostüm mit Farbkleksen.“
Versunken schaut Susanne an sich herab. Ihre perfekt gebügelte weiße Bluse, die Satinanzughose, alles scheint ihr selbst fremd zu sein. Als ob zwar ihr Körper hier mit uns am Tisch sitzt, aber der Geist, ihr Ich ist in den Trümmern oder zumindest in dieser unerwarteten Begegnung. Nicht festgehakt, eher frei. In dem Wissen, dass man manche Dinge nicht begreifen kann.
„Wisst ihr, was dieser unversehrte Mönch machte?“ wendet sie sich zum ersten Mal direkt an ihre gebannten Zuhörer. „Er drehte sich weg, bückte sich, löste die Riemen von seinen Sandalen. Dann ließ er sie am Wegrand für mich stehen und ging davon.“