Was habe ich wann gelernt?
Oder: Wer mit dem Strom schwimmt, erreicht die Quelle nie. Aber: Wer nie mit dem Strom schwimmt, hat zwar vielleicht an der Quelle gestanden, aber nie das Meer gesehen.
Kurz vor den Sommerferien, meinem Wechsel in die nächste Klassenstufe und mitten in meiner Pubertät musste meine Mutter sich einer Krebs-OP unterziehen. Es war 1980 und der SPIEGEL, den ich damals nicht lesen konnte, schrieb: „Seit zwei Wochen prasselt fast in der ganzen Bundesrepublik der Regen. In Hamburg war es der nasseste Juni, seit es überhaupt Wetteraufzeichnungen gibt, also seit 130 Jahren. Andernorts werden die Badeanstalten geschlossen, weil es zu kalt ist.“
Aber ich saß ja nicht in Hamburg, sondern viel weiter elbabwärts. In Dresden, dem berühmten „Tal der Ahnungslosen“. Und wartete, etwas bang, auf die Rückkehr meiner Mutter. Weshalb ich mich nicht an das Wetter, sondern an meine Emotionen erinnere.
Es läutete an der Tür. Doch überraschend stand meine Klassenlehrerin, Frau Täubert im dunklen Zwischenflur. War sie die sechs Stockwerke hinaufgelaufen? Normalerweise verursachte der Aufzug in diesem Hochhaus so laute Geräusche, dass ich jeden Halt auf der siebten Etage registrierte, da der Schacht direkt an mein Kinderzimmer grenzte.
Meine Lehrerin hielt eine Flasche Rotkäppchen in der Hand. Das einzige, das ich völlig perplex wahrnahm. Ob mein Vater da sei? Er stand schon hinter mir und ersparte mir die Antwort. Mit undefinierbaren Miene drückte er mir einfach zwanzig Pfennig Straßenbahngeld in die Hand und wies mich mit fast tonloser Stimme an, bei meinen Großeltern nach dem rechten zu sehen.
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Lumpi, mein grüngelber, fröhlich vor sich hin schnatternder Wellensittich schrak auf seiner Stange zusammen, als ich das Schlaftuch über den Käfig warf und ihn unsanft anhob.
In der Straßenbahn, immer noch verstört von dieser Wandlung des Geschehens, zwängte ich meine verwirrten Ahnungen in mein Tagebuch. Schon damals half mir das Schreiben, die Lautstärke meiner Kopfgedanken zu dimmen.
Punkt eins auf meiner Lernliste heißt also: Sprache, also Deutsch, meine Muttersprache, ist eines meiner Lieblingswerkzeuge.
Damit kann ich deutlich besser umgehen als mit einer Bohrmaschine oder vielen Softwaretools. Und ich bin außerordentlich dankbar, dass ich Sprechen und Schreiben lernen durfte und darf. Der Präsenz ist in voller Absicht gewählt. Kleiner Abstecher: Eine Kommilitonin schrieb mir unlängst von der Idee, dass ein Recht auf die eigene Sprache ein Menschenrecht sein sollte.
Vielleicht lassen sich meine Erinnerungen mit Leistungssportlern im Fischen vergleichen und gleichzeitig sind sie Meister im Flickschustern. Egal, welche Reminiszenzen mein Hirn anklickt; schwupp, breiten sich Netze um die Gedanken und es wimmelt, wabert und rangelt darin. Fangquotenbegrenzung sinnlos.
Im Falle der oben erwähnten Episode setzte sich die Geschichte hundertprozentig anders fort, erzählte mein Vater oder eben, meine, kurz darauf aus dem Krankenhaus zurückgekehrte Mutter sie.
Damit lande ich, bevor ich sie auflöse, direkt bei Punkt zwei:
Alles führt immer zu allem.
Oder, wie der Zen-Meister Shunryu Suzuki sagt: “Time goes from present to past.” Denn für mich mündete diese story in einen Lebenstrichter.
Bevor meine Mutter mit ihrer Krankenhaustasche auf die Idee kam, im Schlafzimmer nachzusehen, stolperte sie über die leere Sektflasche und eine Socke. Nachdem sie gesehen hatte, was im ausklappbaren Wandschrank-Ehebett keine alternativen Schlussfolgerungen zuließ, ging meine Mutter, zwei Groschen in der geballten Faust, los. Die Telefonzelle lag am Ende der Neubausiedlung. Frau Täuberts Ehemann, den sie umgehend erreichte, hatte als Stasi-Mitarbeiter einen Apparat zuhause.
Und mit diesem Telefonat besiegelte meine Mutter, ohne ihre folgenreiche Aktion abschätzen zu können, meine Zukunft. Auf einem Zeitstrahl sähe die Darstellung simpel aus:
Betrogener Ehemann wütet und schlägt die Einrichtung kurz und klein.
Frau Täubert kann sich aus diversen Gründen nicht so einfach rächen. Das liegt vor allem darin begründet, dass die Staatsführung mittels ihrer Partei SED in den meisten Betrieben auch Obhut für Ehe-Hygiene übernimmt. Und dass meine Mutter ebenfalls an einer Schule lehrt und ich als „Intelligenz-Arbeiter-Kind“ in somit in diesem Spiel wohl Ass oder Joker bin. Aber, die attraktive Frau wirft mich einfach als Fehde-Handschuh in den Ring, somit lande ich – wie in Brechts „Kauakasischen Kreidekreis“ als Lehrerinnen-Zerreiß-Objekt. Ich hatte Einfachheit versprochen, zu der ich hier zurückkehre: Frau Täubert schrieb eine gepfefferte Beurteilung in mein Zeugnis und besiegelte damit, dass ich nicht auf die erweiterte Oberstufe zum Abitur zugelassen wurde.
Für die meisten Menschen sieht ja ein Leben wahrscheinlich wie ein Zeitstrahl, bestenfalls erweitert durch eine räumliche Komponente, aus.
Erkenntnis Nummer drei
ist, dass ich auf meinen Leben wie eine Hochseiltänzerin jongliere.
Immer scheine ich einen Abschnitt wie eine Balancierstange oder eben Tangente vor mir herzutragen. Mit dieser versuche ich, meinen Lebenserdball zu berühren, auf dem ich mich selbst erlebe. Jeder meiner Mathematiklehrer gäbe mir für diese geometrische Schilderung eine knappe Punktzahl. Vielleicht fände bei Quantenphysikern Anklang mit meiner vierten Dimension.
Mir ist bewusst, dass ich hier mit „Schrödingers Katze“ experimentiere, die ich nun als Lernvorgang vier aus dem Hut zaubere.
Alles, was geschieht, habe ich vorher schon einmal geträumt oder gesehen. Vice versa: Nur, was ich schon geträumt oder gesehen habe, kann sich materialisieren, sprich „geschehen“.
Hört sich hochgestapelt an? Ich meine das wortwörtlich buchstäblich und beziffert.
Kleine Exkursion mit Friedrich Weinreb in den Zusammenhang zwischen Zahlwerten und Wortbuchstaben: „Und er träumte: Und siehe, eine Leiter war auf die Erde gestellt, und ihre Spitze (wörtlich „Haupt“) rührte an den Himmel; und siehe, Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. (1. Mose 28,12)
Er sieht eine Leiter, die Himmel und Erde verbindet. Leiter heißt im Original sulam, 60-30-40, sie „zählt“ 130, „weiß“ gemäß ihrem Zahlenwert schon von der Durchbrechung des Zeitlichen, dessen Grenze mit der 120 beziffert ist (…). Eine Leiter besteht aus zwei Senkrechten (Holme), die über waagrechte Verbindungen (Sprossen) die Überwindung eines Höhenunterschiedes durch einzelne Abschnitte ermöglicht. Ohne diese Unterteilung könnte die Differenz nur durch die Fähigkeit des Fliegens überwunden werden. Jakob sieht in seinem Traum jedoch keine fliegenden Engel, sondern solche, die eine Leiter benutzen.“
Benutze ich Weinrebs Bibelübersetzung als Sprossen meiner Gedankenleiter, kann ich nunmehr mich ganz einfach erklimmen.
„Im Talmud findet sich folgende bekannte Passage:
Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Deine Worte.
Achte auf Deine Worte, denn sie werden Deine Taten.
Achte auf Deine Taten, denn sie werden Deine Gewohnheiten.
Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter.“
Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal.
Im Grunde müsste ich mich, um die Aufgabenstellung meiner Dozentin umfassend zu erfüllen, mich auf den „großen Fernatschen letzten Satz“ oder die Zahl PI stützen. (Fermats letzter Satz wurde offenbar von Homer Simpson widerlegt? Oder bin ich jetzt im Paralleluniversum auf den Zeitsrahl aufgesprungen?)
Vielleicht nehme ich eine ketzterische Abkürzung und verdrehe meine komplizierte Gedankenleiter einfach in eine skizzierte DNA?
Es gibt, da es ja keine zweidimensionale, dualistische Lebens-Realität gibt, ja im Grunde keine Chronologie. “Time goes from present to past.” Und die Erde ist keine Scheibe.
Auf einen quantenphysischen Gedanken-„Katzenzustand“ verdichtet: Jede meiner Lernerfahrungen lässt sich weder nummerieren noch unabhängig von den anderen darstellen. Sie bewegen sich mit mir auf den Bühnen meiner Träume, Gedanken, Synapsenverknüpfungen in Multiversen.
Vielleicht habe ich meine Lehrerin, diese und alle anderen Episoden ja ausgewählt, um bestimmte Leitersprossen zu überwinden?
Möglich, dass es nie um Frau Täubert, das Fremdgehen meines Vaters oder meinen Wechsel an die Schule meiner Mutter für die letzten zwei Jahre meiner Lernkarriere im Bildungssystem ging?
Burleske Wendung – es war die Straßenbahn!