In Zimmer 3 hilft mir nur die Notbeleuchtung am Bettende bei der Orientierung. Hinter einem Vorhang rasselt jemandes Atem. Stockt, setzt wieder ein. Verstörender Rhythmus. Der Mann spricht nicht. Wurde mir beiläufig mitgeteilt und so steht es auch in der Computer-Dokumentation. Tatsächlich habe ich von Herrn Zweigelt in diesen dreieinhalb Wochen noch nicht ein Wort gehört. Dass er nicht stumm ist, weiß ich dennoch ganz sicher.
Gelegentlich schreit er. Markerschütternd und manchmal völlig unerwartet. Am häufigsten aber, deshalb rechne ich beim Wenden seines Haut-Skeletts eigentlich immer damit. Und erschrecke mich dennoch aufs Neue.
Vor dem unvermeidlichen Umlagern seines mageren, vom Krebs zerfressenen, ausgehöhlten Körpers ist mir jedes Mal bang. Doch, wenn ich nicht Gefahr laufen will, dass er morgen früh überall neue wunde Stellen hat, muss ich ihn alle zwei Stunden zumindest um ein paar Grad drehen. Normalerweise hätte ich diese Prozedur schon vor dem Abendessen angehen müssen, aber er hat so tief geschlafen, dass ich ihn nicht quälen wollte. Jetzt verweigert er mit aller verbliebenen Kraft in den zusammengepressten Lippen das Einflößen des Breis. Ich werde es nach der Essensverteilung noch einmal versuchen müssen.
„Kann ich Erdbeeren haben?“ Tönt es aus dem Dunkeln. Ach klar, seit gestern bewohnt ja auch Herr Behnke Zimmer 3. „Warum machen Sie denn kein Licht?“ frage ich den kräftigen, graumelierten gutaussehenden Mann, der an dem quadratischen Tisch vor seinem leeren Wasserglas und einem umgestürzten Zuckerstreuer sitzt. Vor ihm im Schein der Nachttischlampe, die ich angeknipst habe, um ihm einen Teller zu servieren, türmt sich ein Miniatur- Pão de Açúcar oder eben Zuckerhut auf. Konsterniert starrt er auf die magere Scheibe Brot, die leidlich mit einem welligen Gouda und zwei Eischeiben und drei Cornichons dekoriert ist. „Ich wollte die Erdbeeren hier eintauchen!“ zeigt er auf den weißen krümeligen Haufen. „Ich wollte die schreiende Leiche dort drüben nicht beleuchten.“ Puh. Bin ich froh, wenn ich das Abendbrot an alle verteilt habe.
„Was halten Sie davon, wenn Sie den Zucker in den Streuer zurückfüllen. Dann könnten Sie Ihren Pfefferminztee damit etwas süßen?“
Behänd steht er auf, überragt mich um fast zwei Köpfe. Ich bin eins dreiundsiebzig, also nicht unbedingt klein. Und für einen Augenblick unsicher, welche Stimmung zwischen uns herrscht.
„Was ist jetzt mit meinen Erdbeeren?“
„Übermorgen ist Heiligabend,“ will ich ihn darauf hinweisen, dass nicht unbedingt Erdbeerzeit ist. Sein Tonfall lässt keinen Widerspruch gelten:
„Hör mal Mädchen, ich hab seit 180 Jahren ein Busunternehmen. Kundenwunsch wird immer erfüllt.“
„Ok, ich frage in der Küche nach?“ verkneife ich die Ironie, dass er nicht wie 120 aussieht.
Auf der anderen Seite des Vorhangs, röchelt Herr Zweigelt, oder, was von ihm übrig ist. Immerhin fast gleichmäßig. Aus der Thermoskanne gieße ich noch einmal ein bisschen Wasser in seine Flasche mit dem Strohhalm und hoffe, ich habe beim Kathederbeutelwechsel genug Zeit übrig, ihm nachher irgendetwas in Ruhe anzubieten.

„Hier gilt rechts vor links!“ Fast lasse ich vor Schreck den Teller mit dem Griesbrei-Joghurt-Gemisch fallen. Behnke steht mit seiner leeren Zuckerdose direkt hinter mir. Vor mir streckt Frau Wittes Stoffhund wackelnd seine Nase entgegen. Sie hat ihren gestreiften Pullover weit über den Kopf gestülpt, ihr löchriges Unterhemd und der schief gezurrte BH, ihr Bauch und der linke Busen werden großzügig freigegeben.
„Kommst du nachher in mein Bett?“
Behnke und ich stutzen. Sind aus verschiedenen Gründen konsterniert. Mit dem Wagen drängele ich mich an ihr vorbei und bin heilfroh, dass sie ohne ihren üblichen Weinkrampf mit dem Plüsch-Rottweiler zum Gemeinschaftsraum wackelt.
Vor knapp vier Wochen hatte ihr Sohn sie, zwei Netto-Tüten bepackt mit Wäsche und dem abgeliebten Steiff-Tier in den zerfledderten, auf drei Rollen hinkenden Ohrensessel verwiesen. Er werde sie bald wieder nach Hause holen, hatte ich ihn, auf Platt sagen hören. Während er im Dienstzimmer einen Vortrag darüber gehalten hatte, dass seine Mutter auf keinen Fall ohne ihren Stock gehen dürfe, hatte ich gemeinsam mit der greinenden Frau festgestellt, dass sie weder eine Zahnbürste noch ein Nachthemd in Schrank oder Regal einsortieren konnte. „Aber er holt mich doch auch gleich wieder ab.“ Schluchzend hatte sie ihren „Sitzendlich!“ an sich gedrückt. „Wie heißt Ihr Hund? Ich habe nämlich auch zwei.“
„Sitz. Er heißt…, mein Mann weiß es. Platz.“ Sie hob ihren Zeigefinger verlegen in die Höhe und drohte mir wie eine Vorschullehrerin. „Du, du musst jetzt hören!“
Ich hatte ihr über den, schluckaufgeschüttelten Rücken gestrichen. „Mein Sohn holt mich morgen nach Hause.“ Ich war mit ihr, dem Stock und dem Plüschtier für die letzte Viertelstunde meiner Mittagspause über den Parkplatz und entlang der angrenzenden Blumenrabatten gepilgert. Wir hatten beide unsere Mühe, die Blumen zu benennen. Sie, weil sie sich nicht erinnerte. Ich, weil ich sie nicht kannte.