
Nestflüchters Jurtenhimmel
“once living life was just a hungry mouth to feed, west was west and east was east…” Gare du Nord
Gestapelte Strohballen hatte ich für diese Übernachtung ausgewählt, wohl der
Romantik und des Schutzwalles wegen.
21.26 Uhr, schnell einreitende
Sommernacht nach einem weiteren 33- Grad-Tag in steiermärkischen Feldern, die
mich gerade eben noch wie eine beneidenswerte Radreisende hat wirken lassen.
Kaum habe ich diesen Satz aufgeschrieben, donnern Scheinwerfer in
Fußballstadionreichweite mit Riesengetöse heran.
Wäre ich Comiczeichnerin
hätte ich soeben die story-Idee für eine Monster- oder Drachengeschichte
geliefert bekommen. Mit funkelnd, blendenden Lichtkegeln rahmten mich die Riesen
auf meiner in die Jahre gekommenen Parkbank an einem Flusslauf ein. Sie brettern
an mir und Yoshi ungeahnt grazil zwischen Ballen, bereits nachtverpacktem
Cargobike und Zelt vorbei, stauben mich ordentlich ein. Weshalb ich
ausgerechnet heute einen selbstausgedachten Wettkampf mit Verpackungskünstler Christo eingegangen bin, weiß ich nicht.
Könnte eine Art Vorahnung gewesen sein, für die ich jetzt dankbar bin.
Den
sich ständig wiederholenden “Passt, ja, geht”-Rufen des
Stroheinfuhr-Commandante, wie ich den Fahrer des Tarnstreifen-Jeeps bei mir
nenne, entnehme ich, sie haben wohl den Wetterbericht und die Gewitteransagen
für morgen ernst genommen und fahren nun die Futtervorräte heute noch ein. Hätte
ich als gelernte Rinderzüchterin auch mitdenken können, anstatt mich von meiner
Großstädterromantik hinters österreichische Berglicht führen zu lassen.
Interessanterweise haben die Erfahrungen der vergangenen Wochen, die vielen Orte, Wiesen, Felder, Waldränder, Baustellen, Äcker und Feuerwehrparty-Unterstellplätze mich gelassener gemacht. Jedenfalls, solange, bis ich nach dem Erwachen aufs Neue von meinen alten Gewohnheiten gefoppt werde: der Widerspenstigen Zähmung in Gestalt von Schlafsäcken, aufblasbaren Isomatten und weiteren 20. Jahrhundert-Weltall-Teflon-Zufallsprodukten. Unabhängig, worum es sich handelt, klein zusammenfaltbare Hightech oder praktisch wirkende Campingutensilien haben schon immer eine ungeteilte “Will-ich-Haben”-Gier stimuliert. Und nun darf ich immer aufs Neue erkennen, Besitzen ist das eine, Ordnung in diesen wilde Gemeinschaft zu bringen, etwas ganz anderes. Beobachtete jemand meine morgendliche Kämpfe mit den Luxus-Survivaldingen – wieder in Säckchen und Tüten zu stopfenden Schlafsack, Isomatte, faltbare Näpfe und klappbare Messer – er könnte eine Sitcom daraus stricken, dabei ließe sich auf eingeblendete Lachkonserven getrost verzichten.
Die landwirtschaftliche Produktionsgemeinschaft ist inzwischen abgerauscht, ohne, dass ich Gelegenheit hatte, zu fragen, ob sie meinen persönlichen Limes Strohgrenzwall auch noch abzuräumen gedenken und wenn ja, dann heute Nacht noch oder morgen früh und wann? Nutzt eh nix, es ist stockdunkel, was für ein seltsamer Ausdruck, ich meine, wer wohnt schon in einem Stock oder versucht mittels Stock zu sehen oder kommt das von Blindenstock? (Es kommt von Klotz…..Schreiben bildet also auch.)
Und bei “nutzt eh nix” kommen Relationen ins Spiel. Die überdenkenswert sind. Wenn ich mich an meine Zeit zwischen 16 und 18 erinnere, fallen diese Memos auf güllebedeckten Boden. Damals absolvierte ich in verschiedenen LPGs eine Lehre zum Zootechniker/Mechanisator Tierart Rinderzucht, zweite Tierart Schweinezucht. Zu den vielen Unbillen wie Zivilverteidigungsunterricht, militärischem Drill, der grobschlächtigen Behandlung der Tiere in Riesenmelkanlagen und Ställen, in denen von 800 bis 2700 Kühen getriezt wurden, den Lehrlingswohnheimgepflogenheiten kam für mich erschwerend hinzu, dass ich morgens um drei Uhr auf wintereisigen, verlassenen Dorfstraßen bangen musste, ob der LPG-Bus tatsächlich kommen und mich einsammeln würde. Wenn ich jetzt, zu welcher Zeit auch immer, aufwache, freue ich mich. Diese Reise lehrt mich Dankbarkeit in vielerlei Hinsicht, aber eben auch, weil alle Erlebnisse bewusst und selbstbestimmt freien Willens entschieden sind.
Buddhistisch betrachtet sind das alle Erscheinungen, Illusionen des Geistes,
Schleier der Unwissenheit. Soweit die Philosophie. Hört man spannenden
Dokumentationen der Erkenntnisse von Hirnforschern zu, kann man schon ins
Grübeln kommen: Neuronen, Blitzgewitter, Synapsenverknüpfungen, Verschaltungen
in unseren Gehirnen, das Nervensystem, die Zirbeldrüse…wie entstehen Gedanken
und wann und weshalb konnte ich mich für diese Reise jetzt und nicht früher oder
später entscheiden. Haben die Erfahrungen meiner Vergangenheit mich bis hierher
geleitet? Oder ist es genau die Befreiung von zurückliegenden Erlebnissen, die
mir zu einer neuen Entscheidungsfreiheit verholfen haben?
Dafür, das eigene Tun und Lassen zu realisieren und sich dessen gewahr zu sein, braucht es eine gewisse Gelassenheit und Freiheit des Denkens. Überlebenskämpfe in Großraumbüros oder Fitnesscentern, Streit um Pizza oder Pommes, der Überziehungskredit und ähnliche Geißeln führen zu TV Sendungen wie “Verklag mich doch!” und selbst die Kündigung meines Knochenjobs im Seniorenheim hätte mir nach dem Tod meiner beiden Hunde das Genick im übertragenen Sinne brechen und mich zum Jobcenter in ein weiteres Gedankenhamsterrad treiben können. Wie die Karte meiner Cargobikereise könnte ich ebenfalls eine mit Menschen, Orten erstellen, wo sich das äußere und innere Lernen für mich verknüpft und mich ebenso an diese Punkte meines Lebens geführt hat, von denen aus ich jeden künftigen Moment ansteuere. Diese, manchmal länger meine Lebenslinien kreuzenden Freundschaften, manchmal kürzer und schon verstorbene Freundinnen, Lehrer, Helferinnen und in allem auch immer die Tiere erscheinen mir wie Gravuren in meiner eigenen, oder sollte ich sagen, als eigen erlebten Struktur. Welche Muster lege ich an und sind diese mehrdimensional, holographisch, kann ich sie ablichten, beschreiben, teilen.
Welche Überschneidungsmengen verbinden mich mit anderen? Die Sprache, die Fotografie, die Musik, Berührungen, Begegnungen, Gesten, Mimik, Schweigen und Sprechen. Emotionen und vieles mehr schaffen Verbundenheit. Die wiederum zu Dankbarkeit führt, für die Kostbarkeit, in einer Reise ein inneres Zuhause zu gewinnen.

