Journalismus

In Aceh ist die Erde eine Scheibe

Fünf Tage lang sah Romi einen Spaltbreit Himmel. Er trank den Regen und ernährte sich von angeschwemmten Kokosschalen. Hin und wieder sah er Menschen vorbeischwimmen. Zuerst Lebende, dann mehr und mehr Tote. Nach drei Tagen hatte er das Gefühl, die Erde sei eine Scheibe, auf der alles vorbeischwappte wie auf einem schiefgelegten Teller. Doch Romi konnte nicht helfen, nichts gerade rücken, denn er lag mit gebrochenen Rippen und Beinen zwischen den Tsunamitrümmern seines Hauses.

Vor der Welle lebte er in einem kühlen, geräumigen Haus, das er selbst mitgebaut hatte. Sein erster Sohn war gerade eineinhalb Jahre alt, Romi ging mit dem Jungen und seiner Frau hinaus auf die Straße, als am 26. Dezember 04 das Beben begann. „Erdbeben sind nicht ungewöhnlich hier in Banda Aceh, deshalb warteten wir einfach ab. Dann stürzte plötzlich die Schulmauer ein, es krachte mörderisch.“ Doch noch ahnten weder Romi noch seine Nachbarn, was ihrem Kampung (Dorf) Lamjabat, was ihrer Stadt Banda Aceh und was den Küstengebieten Acehs drohte. Sie wussten nur, dass sie ihre Häuser nicht aus den Augen lassen wollten und beteten, dass das gewaltige Beben sie nicht zerstörte. Romi gestikuliert wild und grinst übers ganze Gesicht, als er vor seinem Zelt sitzend, all das wiederholt, was er nach seiner wundersamen Rettung schon so oft in zahlreiche Kameras und Mikrofone erzählt hat.

Seine Nachbarn und Freunde sind fast alle zurückgekehrt in den Nordwesten Banda Acehs, nach Lamjabat (Meuraxa), kaum einer will noch länger in den Camps darauf warten, bis sich die Organisationen über Baupläne, Kosten und Hausdesigns geeinigt haben. Sie lieben Romis Art, denn er spricht ihnen aus dem Herzen, ohne wehleidig zu sein.

Auch Yahdi und seine Frau Linda, eine Engländerin, die seit 12 Jahren in Lamjambat zu Hause sind, lachen gern mit Romi. Vielleicht gerade, weil auch sie ihre ganze Familie verloren haben. In Meuraxa, dem Vorort Banda Acehs, wurden neben Lamjambat alle 15 Dörfer fast vollkommen zerstört. 85 Prozent der Bevölkerung sind tot. Von 35.000 Menschen sind hier noch etwa 5500 am Leben. Und die wollen nicht bedingungslos aufgeben. „Die Leute hier waren vor dem Desaster nicht arm oder ungebildet,“ gibt Linda zu bedenken: „Hier spart man nicht, sondern investiert in sein Haus. Deshalb haben die meisten Leute in einer halben Stunde alles verloren.“

Es ist die erste laue Nacht seit einer Woche und endlosen Regentagen, die sintflutartige Sturzbäche über die ohnehin noch nicht getrocknete Landschaft ergossen. Jemand hat weiter hinten hat jemand eines der Müllfeuer entzündet. Linda und ihr Mann Yahdi haben, da niemand sich für diese Gegend interessiert, über ihre Organisation „Yayasan (Foundation) Lamjabat“ ein Cashflow-Programm eingerichtet, so dass die Leute, die Tag für Tag den Müll sammeln, sortieren und zur Wiederverwertung aufbereiten oder verbrennen, wenigstens bezahlt werden.

Aus einem der Zelte dringt laute Techno-Musik herüber. Nachbarn kommen, sie bringen Wasser und Zigaretten mit. Einer, von dem Linda sagt, er sei mit 22 der jüngste Witwer im Dorf, serviert Biskuits in Fischform. Umgeben von einem schützenden Wall aus verschiedensten Not-Behausungen – vom Bundeswehrtarngrün über ein himmelblaues Ferienzelt bis hin zur selbstgezimmerten Hütte – hocken die Menschen zusammen und fragen sich vor allem immer wieder eines: Wo sind nach einem halben Jahr all die Gelder, wo sind die versprochenen Häuser?

Yahdi ergreift sichtlich bewegt das Wort, denn er wurde von seinen Leuten nach dem Tod der Dorfältesten zum Vorstand eines Kommitees gewählt, das sich um Hilfe für Lamjabat kümmern soll: „Gelegentlich schaukeln Minivans mit verdunkelten Scheiben über die mittlerweile völlig zerstörte Straße, die an manchen Stellen überflutete und nur noch bedingt befahrbar ist, heran. Dann steigen gut beschuhte Mitarbeiter von Hilfsorganisationen oder Journalisten aus, sammeln Daten, machen Pläne, Fotos und manche auch Versprechungen. Eine Organisation wollte 300 Häuser im Nachbardorf aufstellen, ein halbes Jahr ist um und es steht gerade eines davon. Keiner von ihnen hat je versucht, auf geretteten, zusammengestellten Schulbänken, unter stickigen, feuchten Decken in einem Zelt zu schlafen, in dem bis zu vier Personen nicht nur übernachten, sondern auch kochen, reden, schnarchen.“

Romi zieht bedächtig an seiner  Zigarette: “Ich hab eher Angst, dass wenn wir zuviel verlangen, beim nächsten Tsunami niemand mehr hilft.“

Zustimmendes Murmeln aus der Runde, aber Linda widerspricht: „Sie helfen doch jetzt auch nicht! Hier wohnen so viele Menschen seit sechs Monaten in Zelten, einschließlich einer 83-Jährigen. Bei den Meetings hier, auch wenn sich jetzt immerhin eine Regierungskommission bereit erklärt hat, bis auf die unteren lokalen Ebenen mit den Leuten direkt zu verhandeln, geht es noch immer um THE DATA, die Daten, als ginge es darum, eine Matrix zu knacken. Daten sind für Organisationen, Häuser für Menschen.“

Jemand erinnert sich, wie sie Romi fünf Tage nach dem Tsunami aus den Trümmern bargen und sofort eine Meute Fernsehteams versuchte, Aufnahmen zu bekommen. „Es gibt immer Menschen, die anpacken und andere, die Daten sammeln“ lacht Romi wieder aus vollem Hals. „Ehrlich, im Krankenhaus, wo sie mir die Wunden säuberten und nähten und versuchten, Injektionen zu geben, hab ich mich zurückgewünscht in die Hände derer, die Daten sammeln. So sehr hat das geschmerzt.“

Aber noch mehr wünsche er sich, dass diejenigen, die hier helfen, wenigstens einmal Yahdi, Linda, ihn und alle anderen hier fragen, wie sie ihr Lamjabat  wieder aufbauen wollen. Solange er dazu verdammt ist, mehr oder weniger tatenlos zuzusehen, wie sein Dorf unter dem Regenwasser versinkt, wird er das Gefühl nicht los, die Erde sei immer noch eine Scheibe.

Journalistin, Fotografin, Hundeteamleiterin

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