Brief an Alfred H. Barr, Jr. (1951)
Barr hatte für das Museum of Modern Art (NY) die Skulptur Sleeping Figure gekauft.
„Lieber Alfred,
Einmal muss ich Ihnen doch etwas über die fehlenden Teile von Figure Endormie sagen.
Wenn Sie sich die Schultern der Figur genau anschauen, sehen Sie im dünnen Teil der Flügel zwei Löcher. Sie dienen dazu, die Arme in eine andere Stellung zu bringen, wenn die Figur nicht mehr am Schlafen ist. Dann sind die Arme nämlich nicht mehr angelegt, um den Körper zu schützen, weil sie sich dem Betrachter zuwenden und den Körper frei und in Ruhestellung lassen.“
Zwei Paare Schultern
„[…] Es gibt übrigens nicht nur zwei Schultern, sondern zwei Paare von Schultern, eine froh, die andere traurig. Ich bin mir jedoch nicht sicher, was die Plastizität der fröhlichen angeht, deshalb schicke ich Ihnen nur die ernsten Schultern.“

Vielleicht wäre ich auf diesen Brief – den ich als dicken Aufzeichnungs-Tagebuch-Brief in der Sammlung Destruction of the Father – Reconstruction of the Father wiederfand – gar nicht aufmerksam geworden wie auf andere Aufzeichnungen. Doch dieser Brief klang mir schon im Ohr, bevor ich das Buch, das ich einer Freundin geschenkt und nun leihweise mitgenommen hatte, überhaupt aufschlug.
Klang gewordene Erinnerung: Worte Setzen
„Dingfest machen“ heißt das Hörstück, in dem Ulrike Haage Louises Worten Stimmen und Melodien gegeben hat.
Ich schreibe bewusst nicht „verliehen“, nicht weil ich Wiederholungen im Sprachgebrauch fürchte, sondern weil ich Haages Vertonung und Zusammenstellung von Louises Worten als Geschenk empfinde.
Louise B. – Nägel im Eichenboden
Abgesehen davon, dass ich Louise Bourgeois‘ Kunst schon lange bewunderte, erinnere ich mich nur vage, sie über meine große Liebe B. kennengelernt zu haben. Der Titel des Buches Destruction of the Father hatte mich sofort in seinen Bann gezogen.
Eine „Destruction“ – eine Vernichtung, Zerstörung oder ein Untergang im Zusammenhang mit dem Vater – ist sicher vielen Menschen auf verschiedene Weise geläufig.
Erwartungen
Im Gespräch mit einer Freundin kam die Frage auf, was sie – statt immer wieder unbefriedigende Gespräche mit ihrer Mutter zu führen, die an wunden Punkten rührten – am liebsten tun würde: „Sie umbringen.“
Starker Tabak? Ja und nein.
Natürlich stellt sich die Frage: Wie ernst ist das gemeint? Aktiv oder passiv? Tatsächlich Hand anlegen – die Mutter aus dem Leben befördern?
Oder verbal: die Frau, die einem ins Leben geholfen hat, „an die Wand klatschen“? Oder ist es vielmehr das Leiden daran, nicht gehört zu werden – gerade von dem Menschen, von dem man Liebe erwartet?

Eltern sehen
Hier kommt der eigene Anteil ins Spiel: unsere Sicht auf die Eltern.
Wer sagt uns, dass wir das unverrückbare Recht und den Anspruch darauf haben, Eltern müssten so oder so sein?
Etwas anderes ist es, wenn elterliche Nicht-Verantwortlichkeit zu Missbrauch, Vernachlässigung oder Misshandlung führt.
Das berührt ein anderes Gesetz: eine Art Weltgerechtigkeit.
Soziale Wesen sollten schwächere Menschen nicht in ihrer Fehlbarkeit weiter stoßen oder schlimmer behandeln.
mein thema ist schmerz/Schmerz wie stein: unzerstörbar
Was Louises Kampf mit ihrem Vater betrifft, so verwandte sie viel Energie darauf, damit offen umzugehen. Sie benannte Destruction of the Father – Reconstruction of the Father immer als Quelle ihrer Kunst – nicht ausschließlich, aber zu großen Teilen.
Hier drängt sich eine weitere Frage auf:
Worauf zielt dieser Text grundsätzlich ab? Auf den Kampf. Denn nichts anderes ist eine „Destruction“ – egal, ob man sie mit „Vernichtung“, „Zerstörung“ oder „Untergang“ übersetzt.
Kampf ist immer Energieverschwendung.
Kampf ist keine Disziplinierung.
Ringen, sich vergleichen, in Konkurrenz treten – das sind Bewegungen, die Kraft aufwenden und paradoxerweise auch Zeit schaffen.
Genau: Energie kreiert Zeit.

Sehnsucht Ablehnung
Das Empfinden, sich die Mutter „vom Hals halten zu müssen“ – sei es verbal oder gedanklich – ist Kampf. Ablehnung.
Das ist nur die andere Seite derselben Medaille: das Haben-Wollen.
Im Fall der Freundin: Sehnsucht danach, geliebt, verstanden, gesehen zu werden.
Kreativität do und undo
Und jetzt die Preisfrage:
Wenn der Wunsch, die Mutter, den Vater oder wen auch immer „zum Teufel zu wünschen“ in Kunst und Kreation umgemünzt wird – ist das nur eine Umfärbung?
Ein neues Etikett?
Oder eine echte Lösung, die das Problem einem Fluss überlässt?
„Künstlerworte sollte man immer mit Vorsicht genießen.
Eine fertiggestellte Arbeit ist für den Künstler oft etwas Fremdes, ja selbst etwas ganz anderes als das, was er zu Beginn der Arbeit fühlte oder auszudrücken wünschte.
Bestenfalls macht der Künstler das, was er kann, und nicht das, was er beabsichtigt.“
— Louise Bourgeois
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