Bilder einer Aus-Stellung

ein KI generiertes Foto eines Gondoliere in Venedig

eine Venedig-Krimi-Miniatur

Es schmeckt ekelhaft. Salzig. Man bekommt brennenden Ausschlag davon, vor allem aber Durst. Entsetzlichen Durst. Sie mengen allem, was sie mir einflößen, Salz bei. Selbst dem Badewasser, in dem ich versuche, still zu liegen, als sei ich ein kranker Meeressäuger, haben sie ein paar Kilo Totes-Meer-Salz beigemischt. „Salz“, sage ich, als sie mir bedauernd übers Haar streicht: „Meer. Das Prinzip. Konsequente Methode!“

EINS

Morgens holte die Sonne weit aus, nur, um dann doch fast unbemerkt hinter dem jüdischen Friedhof Lido zu verschwinden. Was für ein Aufwand. Natürlich war es wie immer voll im „La Strada“, wir waren spät dran. Kaum, dass wir einen Platz erkämpft hatten, sah ich den Gondoliere in der Fensternische, sein Buchenholz-Ruder lehnte neben ihm. Er blickte nicht auf. Auf dem Markusplatz gaben sich die Touristen gelassen, sie kauften pfundweise Vogelfutter und streuten das Zeug auf den Platz, als wäre es Hochzeitskonfetti. Ein ganz normaler Tag. Sabine und ich hatten Streit, ohne dass mir klar gewesen wäre, worum es ging. Kleinigkeiten, was immer ich tat oder sagte, sie nahm es auf wie einen Fehdehandschuh. Bot spitzzüngig Paroli. Ein breites Grinsen riss mich aus meinem Selbstmitleid. Kaum hatte ich ihn erkannt, kam Marcello auch schon zielstrebig herüber. Drei Gläser auf einem Tablett balancierend. Gegenüber hatte jemand „ragazzi!“ an die Hauswand gesprüht.

Marcello

Unter Marcellos Fassbauch baumelte eine Gürtelschlaufe wie ein defekter Zapfhahn, und obwohl er nur einsfünfundsechzig an die Messlatte bringt, fällt er wegen seines kahlen Schädels und dem Rosen-Tattoo darauf auf. Bevor er das „La Strada“ übernahm, hatte Marcello als Benediktinermönch in einem Kloster nahe Wien gelebt. Marcello palaverte über eine nicht bezahlte Forcola. Dieser hölzerne Ruderaufsatz, der steuerbord in den Booten steckte, müsse auf den Gondoliere zugeschnitten sein wie ein Maßanzug. „Für den Ruderer ist so eine Holzdolle wertvoll wie eine Frau. Nur bezahlen will er sie mir nicht!“ Sein Zorn bäumte sich auf wie ein wieherndes Pferd. Sabine zündete sich – gelangweilt, wie mir schien – eine P&S an. „Sag mal“, versuchte ich das Thema zu wechseln: „Man sagt, du warst in Amerika?“ Zuvorkommend angelte er für Sabine einen Aschenbecher vom Nachbartisch: „Man muss in Venedig nicht alles glauben, was die Kanäle entlanggeflossen kommt.“ Beinah hatte sein sonores Geschwafel mein Unbehagen, ihn wieder zu treffen, beseitigt. Doch als Sabine sich den Weg zur Toilette bahnte und Marcello dem plötzlich verschwundenen Gondoliere nach draußen folgte, spielte ich ein wenig mit dem Aschenbecher. Und entdeckte eine fein geschwungene Laser-Linie im Boden des Aschers, in der ich meine eigene Handschrift erkannte: Meer-Prinzip. Von da an wusste ich, dass es aus war. Was ich nicht verstand, war, weshalb der Gondoliere die Forcola nicht zahlte. Er besaß das Geld. Ich selbst hatte es ihm überwiesen. Vor dem Fenster stritten Marcello und der Mann, der sein Ruder wie ein Gewehr geschultert hatte, während die Taubenfrau ungerührt die Vögel auf ihrer Schulter balancierte. Verstohlen ließ ich den Ascher in meine Manteltasche gleiten und zündete mir eine P&S an.

„Venedig?“ kreischte ich. Eine Dame im Nerz nahm ihren erschrockenen, schleifetragenden Schoßhund auf den Arm. Marcello, beruhigte sie mich, habe sich kurz nach unserer überstürzten Abreise damals nach San Francisco abgesetzt. Dort arbeite er im Team der Golden-Gate-Bridge. Ich leerte den LTU-Piccolo in hastigen Zügen. Tatsächlich gab es einen Trupp Männer, die ihr Leben auf der Brücke riskierten, um sie vor Rost und Meersalz zu schützen, indem sie das Metall wieder und wieder mit einer orange-roten Farbe bepinselten. Doch wie immer, wenn Sabines Geschichten der Realität so nahe wie jetzt kamen, schlenkerte der Haken, an dem ich mitgehangen würde, bereits dicht über mir. Manche prophezeien, die Ruhe Venedigs wirke provozierend. Jetzt, nach dem Auftauchen Marcellos, brauchte ich nicht mehr damit rechnen, dass die Stadt die Gültigkeit dieser Behauptung an mir exerzieren würde. Genau wie vor einem Jahr stand die makellos weiße Marmorwanne zwischen den Weinregalen, als sie mich nach unten führten.

Sabine war mir vor mehr als zwei Jahren bei einer Vernissage im Völkerkundemuseum in die Arme gelaufen, oder vielmehr gefallen. Jemand hatte drei Sträuße Lilien senden lassen, deren umwerfender Duft die Fleurop-Botin, die zu allem Überfluss blaue Spitzenhandschuhe und einen Schleier trug, fast zu ersticken drohte. Es stellte sich heraus, dass sie für einen Freund eingesprungen war. Dummerweise litt sie an einer Lilienallergie. Museumsdirektorin Düvall, großbusig und parfumumflort wie eine wandelnde Festung, warf einen Blick auf Sabine, als taxiere sie ein Rennpferd: „Bleiben Sie, feiern Sie mit uns!“ Rauschte sie wieder ab.

Woraufhin Sabine ihren Handschuh lüpfend, lauthals rezitiert hatte: „Whow, after I jumped – it seemed to me – life is perfect, life is the best, full of beauty, magic and television…“. „Wim Wenders, The Million Dollar Hotel„, erkannte ich die Szene. Ein wenig schwul näselte sie: „Unglaubliche Farben, oder?“ Innerhalb kürzester Zeit war es Sabine gelungen, sich als wichtigste Person in meinem Leben zu etablieren. Was nicht schwierig war, denn, nüchtern betrachtet, bestand dies vornehmlich aus meinem Museumsjob, meiner Vorliebe für Filme sowie für ALDI-Fertiggerichte. Unser Lieblingsritual begann und endete in der linken Ecke von Sabines Sofa. Eingerollt zwischen Kissen, tranken wir Sekt. Spätestens dann, wenn Keanu Reeves mit seinem: „Welche Vase?“ die Prophezeiung des Orakels erfüllte, weil er sie auch schon herunterwarf, zelebrierten wir die „Matrix„-Dialoge in verteilten Rollen. „Sexy,“ spöttelte Sabine, wenn sie mich abholte, und wartete, dass ich meine mausgraue Museumsuniform in den blechernen Spind hängen würde.

Ihre Handtasche gleich einem Schutzschild in der Armbeuge knapp auf Brusthöhe, wartete sie, immer etwas steif. Nicht zuletzt verstärkte sie diesen Eindruck durch die Art, aus ihrem hübschen Mund eine fette Linie zu machen, als sei er ein brokatbesetztes Lippensofa – auf das man seinen eigenen Mund nur zu setzen brauchte, um mit ihr eine innige Verbindung zu haben. Über sich sprach sie so gut wie nie. „Es gab Italien, und Männer,“ beendete sie das einzige Gespräch zu diesem Thema entschieden. Marcellos Bekanntschaft verdankten wir Sabines Handtasche. Kaum waren wir am Sotoportego CorteRota gelandet, stürzte ein kahlrasierter Typ mit einem Bauchladen auf uns zu. „Weißt du, was du so bedenkenlos mit dir herumträgst?“ kläffte er sie an und ich gewahrte, dass, was ich bisher für eine bedeutungslose Verzierung gehalten hatte, ein hebräisches Zeichen war. Gerade, als ich uns den wildgewordenen Dicken vom Hals schaffen wollte – stutze ich, denn Sabine vollführte mit ihrer blassblauen Hand, sie schien immer zu frieren, eine Art Segnung. „Kennst du ihn etwa?“ blaffte ich überrascht. „Man muss nicht jeden kennen, um ihn zu erkennen.“ „Marcello“, reichte er mir, völlig verwandelt, die fleischige Hand und lud uns ins „La Strada“ ein. Sabine hatte in meinem Ceasar-Salad herumgestochert, bevor sie sich entschloss, meinem Drängen endlich nachzugeben und mich einzuweihen. Mit Marcellos Hilfe waren wir rasch angetrunken und schließlich bei Kate Moss und der „Obsession-Werbung“ gelandet, die angeblich gar nicht Kate, sondern Sabine zeigte. Irgendwie vermutete ich, Sabine kenne Marcello vielleicht von früher und nun erlaubten sie sich einen Scherz mit mir. Die Kampagnen seien versteckte Ankündigungen, ließ Sabine mich wissen, während Marcello eine neue Flasche Wein öffnete. Aus der Sitz- und Handhaltung des Models wüssten die Ordensmitglieder Datum sowie den Ort des Treffens abzulesen. Geniale Idee, hatte ich gedacht. Weltweit kostenlose Anzeigen, fantastisch.

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Ich hatte gedacht. Weltweit kostenlose Anzeigen, fantastisch. „Ihr seid also so etwas wie die Rosenkreuzer?“ stellte ich Sabine auf die Probe. Denn Bruderschaften und Geheimorden waren mein Spezialgebiet, damit legte sie mich nicht so leicht herein.

„Fast getroffen.“ Sabine kam mir völlig nüchtern vor: „Wir sind Ashmolisten, benannt nach Elias Ashmole.“ Verblüfft sah ich, dass sie es ernst meinte. „Jemanden wie dich kann sich Donna Leon für ihre langweiligen Venedigkrimis nur wünschen“, versuchte ich es mit Ironie, doch da legte Sabine mir auch schon die Henkel ihrer Handtasche um den Hals und zog mich gleich einem Hund in den Keller, wo Marcello bereits zwischen den Weinregalen und direkt vor der Marmorbadewanne wartete. In seiner Rechten hing ein lebloses Huhn. „Na, das geht jetzt aber doch zu weit!“ zeterte ich, als Sabine mich schweigsam auskleidete. Es war ihnen ernst, begriff ich. „Besser das Huhn als du, oder?“ Stumm gehorchte ich, als Sabine mich anwies, die Schuhe auszuziehen und meinen Kopf gesenkt über die Wanne zu halten. Vor der Realität steht der Geruch. Sabines Parfüm, der Wein und das Hühnerblut vereinten sich zu einer betäubenden Mischung. Obgleich ich grauenvolle Ängste ausstand, sie würden mich einmauern oder auf andere Weise zu Tode foltern, genoss ich die Situation auch. Denn wissen Sie: Man läuft nicht davon, wenn man eigentlich dazugehören möchte. „Schwöre!“ wies Sabine mich gebieterisch an, das Schweigegelübde abzulegen. Dann wusch sie mir das klebrige Blut aus den Haaren, küsste mich zärtlich in den Nacken und hängte mir einen winzigen goldenen Anhänger um den Hals. „Aleph“ klärte Marcello auf: „Das Haupt des Stieres, das Noch-Nicht-vollstandig-Erschienene.“ An die Zeit danach erinnere ich mich nur dunkel. Aber Sabine und Marcello begannen kurz darauf eine Affäre miteinander, ich irrte allein durch Venedig. Nach ihrem ersten Streit reisten wir ab.

Sabine ausgenommen, pflegte ich nur mit Düvall und Karia Kontakt. Die Idee zu einer eigenen Ausstellung, Arbeitstitel „Nautilus-Prinzip“, war aus unserm Philosophiezirkel und ja, irgendwie auch aus Rachsucht geboren. Wir hatten es satt gehabt, vom Museumsbeirat immer nur als nettes Beiwerk betrachtet und behandelt zu werden. Düvall, die Museumsdirektorin, wollte beweisen, dass sie zu Größerem fähig war. Zu überflügeln stand das normalerweise vom Museumsbeirat initiierte Repertoire an Hexen- oder Schamanen-Exponaten oder Tarot-Malerei. Einmal im Jahr reichte die Ausschüttung dazu, eine Kollektion aus dem Stralsunder Meeresmuseum auszuleihen. Wir trafen uns also wöchentlich nach der Arbeit, um etwas auszuhecken, mit dem wir uns einen Namen machen würden. Zum einzigen Treffen, das in meiner Wohnung stattfand, war Düvall völlig overdressed erschienen. Zum Abschied hatte sie ein süffisantes Lächeln aufgesetzt. „Verdienen Sie eigentlich genug bei uns?“ Eine Woche später erfuhr ich es von der Putzfrau. Karia und Düvall begannen sich nicht nur immer öfter ohne mich zu treffen, sondern auch eine Affäre miteinander. Verletzt zog ich mich zurück. Ich würde auf eigene Faust arbeiten, sie würden sich noch wundern. Statt mit den mir zugeteilten Themen Meeresströmung und Biolumineszenz, beschäftigte ich zunehmend mit dem jüdischen Chassidismus, mit Zahlenmystik, dem goldenen Schnitt und der Kabbala. Mehr aus Zufall fand ich heraus, dass wir Ashmolisten den weltweiten Handel mit Meer-Salz kontrollierten und klinkte mich nach und nach in diese Geschäfte ein. Mit den aus der Bibliothek angeschleppten „Time-Life“-Bänden und einem gelungenen Corporate-Identity-Entwurf für das gesamte Projekt beschwichtigte ich Düvalls Argwohn.

Sie protestierte nicht einmal, dass ich im Zuge der Entwürfe den Namen eigenmächtig in „Meer-Prinzip“ geändert hatte, weil das aus kabbalistischer Sicht größeren Erfolg für meine heimlichen Geschäfte versprach. Erstaunlicherweise verlangten sie keines meiner gut vorbereiteten Argumente. Vielleicht waren sie zu sehr damit beschäftigt, ihre Liebelei vor mir geheim halten zu wollen.

Wenn man nicht dazugehört und doch ausgeschlossen wird, muss man sich seinen eigenen Zirkel erschaffen. Ich baute meine Figuren auf, zog Springer, Bauern und Boten heran, nutzte die Kontakte, die ich unter dem Deckmantel der Ausstellung knüpfen konnte, ohne, dass irgendjemand Verdacht schöpfte. Mit den Informationen über den Orden, die ich anderen Bruderschaften zuspielte, verdiente ich bald viel, sehr viel Geld.

Schließlich, Mitte November, betrat ein kahlrasierter Italiener das Cafe. „Marcello“ stellte er sich uns vor, fast so, als sei er eingeladen und habe sich nur unwesentlich verspätet. Düvall fokussierte ihn, giftige Blicke im Anschlag wie Dart-Pfeile. Ich schrak zusammen, hatte ich etwas übersehen? Wer hatte ihn geschickt, und weshalb?

ein KI generiertes Bild einer venezianischen Gasse in der Dämmerung

Noch bevor Düvall etwas sagen oder ich mir etwas anmerken lassen konnte, war Karia aufgestanden: „Kein Grund zur Sorge, „Marcello besitzt eine bedeutende Sammlung“, sagte Karia schnell., die für uns von großem Interesse sein könnte.“ „Ach? Ausgesprochen schade, dass wir das Projekt schon in trockenen Tüchern haben.“ Zog Düvall ihre perfekt gezupften Brauen nach oben.

„Ich schlage Ihnen vor, sich erst anzusehen, was ich für Sie habe!“ Marcello bot uns jeweils eine Zigarette an, Düvall und ich lehnten ab. Karia griff zu und reichte gleichzeitig die riesige Ledermappe an Düvall weiter, so dass sie damit fast die Tassen vom Tisch gefegt hätte. „Überaus interessant, aber wir haben keine Gelder.“ „Wenn Frau Direktor erlauben, ich habe kein Interesse an Geld. Mir ist lediglich wichtig, dass unsere Exponate im Rahmen des Projekts ihres Projektes gezeigt werden. Er würde uns fast zweihundert, überaus wertvolle Ausstellungsgegenstände aus dem Fundus einer Gruppierung namens „Astrum Argentum“ zur Verfügung stellen. Mit deren Meister, einem Mann namens Eschner, der sich für die Reinkarnation des Magiers und Kabbalisten Aleister Crowley hält, hatte ich erst vor einem Monat einen Informationsdeal geschlossen. Und plötzlich durchzuckte mich schrill eine Befürchtung: Was, wenn Marcello und Escher sich kannten. Verdammt! Doch sein Vorgehen schien lediglich die Ashmolisten schützen zu wollen. Nichts geschah. Gemeinsam mit Karia sortierte ich nachts, was Marcello in hölzernen Kisten aus Venedig herüberschiffen ließ. Sorgsam verpackte, handgeschriebene Bücher, ausgestopfte Reptilien, alchimistische Wasserproben, Beschreibungen verborgener Unterwasserstädte, moderige Accessoires ertrunkener Ordensmitglieder. Weniger antiquarisch, aber ebenso spannend waren die Informationen über Flugboote, die in Zukunft als Verkehrsmittel eingesetzt werden sollten. Die Rede war von Airfoils, aerodynamischen Phänomenen wie dem russischen „Caspian Sea Monster“, das bis zu 600 Stundenkilometer erreichte. Unter all diesen Dingen fand ich etwas ganz und gar Unpassendes. Weder war es antiquarisch, noch ernsthaft zu verwenden gewesen. „Stört es dich, wenn ich nebenbei ein Video laufen lasse?“ steckte ich meinen seltsamen Fund in den Recorder. Karia zuckte die Schultern, als sie sah, dass es sich um Madonnas „The Power of Good-Bye“ handelte. Gebannt starrte ich auf Madonna, die Schach gegen einen Liebhaber spielt, dem sie gerade den Laufpass gibt. Ich mochte den Song, obwohl Madonna im Video fettige Haare hat. Schon manches Mal hatte ich mich gefragt, ob sie am Ende ins Meer gehen würde. Dann begriff ich es: Sie spielte die Dame und warf den König vom Brett. Matt! Ich hatte die Tür zu einem philosophisch-linguistischen Rechenexperiment, dem wahren „Meer-Prinzip“ geöffnet! Aus unserem biologisch-soziologischen Ansatz hatten wir durch Marcellos Exponate ein Projekt kristallisiert, dessen Spektrum von biologisch-linguistischen, kabbalistischen, soziologischen Betrachtungen bis hin zu noch nie veröffentlichtem Geheimwissen reichte. Hinter dem „Meer-Prinzip“ verbarg sich etwas, dessen Bedeutung mir wie eine Neuentdeckung der Evolutionstheorie auf geistiger Ebene erschien.

Verstört hatte ich den ölverschmierten Blitzlichtfisch aus dem Päckchen gezogen, das der UPS-Mann mir übergab, als ich auf dem Weg zur Vernissage war. Entgeistert las ich im Gehen den dazugehörigen Brief: „Der Ihnen vorliegende Fisch trägt lichterzeugende Bakterien in den Augen. Um Feinde hinters Licht zu führen

oder Beute anzulocken, besitzen viele der Meeresbewohner ein eigenes Beleuchtungssystem. Denken Sie drüber nach!“ Obwohl ich nicht verstand, ahnte ich, das war die lang erwartete Drohung. Aber erst im Flugzeug nach Venedig verstand ich: Sie waren mir auf die Schliche gekommen. Jetzt war ihre Dame am Zug. Sabine lacht mich aus: „Seeigel, der hohe Ritter des Ashmole-Ordens, erinnert dich an einen Seeigel? Meine Zunge fühlt sich rau und dick an von all dem Salz: „Du weißt schon, diese schwarzen, unschuldig an Felsen wabernde Dinger, die einem unglaubliche Schmerzen bereiten können, wenn man unachtsam ist. Ehe man es sich versieht, hat man den Fuß voller stacheliger Punkte.“ Wie, um meine fatale Verkennung der Situation zu illustrieren, tritt der Gondoliere hinter der spanischen Wand hervor, die Marcello zuvor neben der Wanne positioniert hatte. „Ist der Blitzlichtfisch angekommen?“ „Ohne zu stinken.“ Bestätigte ich. „Du hast also verstanden?“ Escher, auf sein Buchenholz-Ruder gestützt, hob den freien Arm, als verscheuche er Sabine und Marcello wie Fliegen. Sie verabschieden sich nicht von mir. Er tränkt ein samtrotes Tuch mit der Kochsalzlösung und zieht die Nadel auf. „Bakterien und Schmarotzer können einem Fisch vielleicht Licht spenden, aber weder der Fisch noch die Bakterien verstehen das Prinzip ihres Lebensraumes. Sie dienen dem Meer, aber nie verstehen sie dessen ursprüngliches Prinzip“. Ich ließ mich zurücksinken in das salzige, abgekühlte Wasser. Als die Injektion in meine Vene drang, flutete eine Welle Licht durch mich hindurch. Ja, ich hatte begriffen. Weil ich glaubte, mich mit Geld für Verrat rächen zu können, hatte ich die Prinzipien missachtet. Das Prinzip jenes einen Prinzips, das mir vergönnt war, es zu durchleuchten, wenn auch nur für einen winzigen Augenblick. Denn, mal ehrlich, wie viele Prinzipien kann man sich im Laufe seines Lebens schon rühmen, verstanden zu haben. Doch dann hatte ich begonnen, Schach zu spielen. Nun würde ich wie Madonna meiner Liebhaberei den Laufpass geben und zurück ins Meer gehen.

Meine eigene Handschrift.

Meer-Prinzip.

KI generiertes Bild: nächtliches Meer und Gischt

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