Benevento im Regen
Im Leerlauf mit 100 km/h hinab in Täler, in die vom Auto aus zu fotografieren keinen Sinn ergibt. Ich konnte es trotzdem nicht lassen. Regen, nichts Neues. Hundert Kilometer, für die der Zug wegen schlechter Regionalanbindung drei Stunden braucht – während die Römer in nur einer Stunde bei ihren südlichen Nachbarn sind. Vier Tage bin ich in einem beneventinischen Wohnviertel. Nebenan dröhnt der Fernseher. Sky hat in fast jedem italienischen Haushalt einen Decoder und beschallt mindestens ein Wohn- und ein Kinderzimmer. Verwundern würde es mich nicht, wenn auch in den Schlafzimmern Serienstars die Unterhaltung prägten. In den Wochen der Reise, in denen ich zum ersten Mal seit acht Wochen wieder richtiges WLAN habe und nicht nur einen teuer erkauften Hotspot, sind so viele Fotos und Texte liegengeblieben, stapeln sich auf externen Festplatten und zeigen mir: Zum Reisebloggen gehört auch Schubladenpflege.

Ein anderes Leben
Verglichen mit den Erinnerungen an ein Leben im Schichtdienst – morgens um fünf mit den Hunden raus, damit ich um sechs beginnen kann mit Wecken, Waschen, Stützstrümpfe hoch zerren, dem ganz normalen Seniorenheimalltag – ist dieses Durch-Italien-Reisen ein Aufatmen. Auch vor dem Altenheimjob, den ich fast auf den Tag genau zwei Jahre durchgezogen habe, mal recht, mal schlecht, war ich unterwegs. Ich habe, mit Unterbrechungen, fast ein Jahr in Indonesien gelebt, war in Osttimor, Vietnam, Singapur, Kambodscha, Brunei, Thailand, Tibet, Nepal und vielem mehr. Das liest sich ganz schön gut, selbst in meinen Ohren. Nur: Wer war ich? Irgendwie immer auch auf der Flucht vor mir selbst. Eindrücke und Begegnungen standen immer bereit. Doch warum fühlt es sich diesmal – und zum ersten Mal – nach meinem ganz eigenen Leben an?

Zufälle oder Zeichen?
Wenn ich meinen Freundinnen am Telefon die ersten Episoden erzähle, sehe ich mir nicht mehr so sehr von außen zu. Immer schon trat ein, was ich vorher gesehen oder geträumt hatte. Das stimmt mich nachdenklich. Denn im Umkehrschluss bedeutet es auf dieser Italienreise: Habe ich all diese vermeintlichen Zufälle selbst kreiert? Immer wieder wirft sich die Frage, an welchem Punkt stehe ich eigentlich, ins Wasser meines Lebens und zieht neue Kreise. Wenn ich mir selbst zusehe, wechseln die Stimmungen, als sei ich ein Chamäleon. Und diese Tiere verfärben sich am häufigsten, wenn sie Stress haben.
Kleine Sicherheiten, große Erkenntnisse
Ist Geld auf dem Konto, scheint es mir auf einmal besser zu gehen. Ist die Krankenkasse bezahlt, fällt eine Sorge ab. Kann ich die Tankfüllung mit der EC-Karte abbuchen, ohne dass der Automat wegen Nichtdeckung verweigert, lässt das Kieferknirschen nach. Doch die Qualität des Augenblicks – das wünsche ich mir immer öfter und inniger – sollte nicht von derlei Bedenken begrenzt werden. Hier, in diesem italienischen Dauerregen, in einem echten Arbeiterviertel, in dem ich mit viel Geld vielleicht nie gelandet wäre, weil ich Hotelzimmer gebucht hätte statt Menschen kennenzulernen, kann ich dankbar sein. Für die Gastfreundschaft. Für jedes Essen, zu dem ich eingeladen bin. Für jeden Steckdosenadapter meiner großzügigen Gastgeberinnen und Gastgeber. Und immer sind Yoshi und ich gleichermaßen willkommen.

Alltag in Benevento
So oft hat man uns die Türen geöffnet und sich entschuldigt, es sei nicht geputzt. Wofür ich umso dankbarer bin: Es nimmt mir die Sorge, Hundehaare oder Pfotendreck könnten Empfindlichkeiten tangieren. Hier, in diesem Wohnzirkel, weitab vom Tourismus, der selbst in Beneventos hübscher Altstadt nicht üppig ist, erlebe ich den italienischen Alltag mit. Kids, die sich fette E-Bikes teilen. Ganze Katzenhorden, die höfische Reviere geschaffen haben und unter parkenden Autos ihre Familien lautstark vergrößern. Nachbarn, die sich nie über Hundegebell aufregen. Autofahrer, die für jedes Tier auf der Straße bremsen. Kirchgänger und Einkaufende, die sich nicht an den Bettlern vor den Türen der heiligen Hallen stören. Alte Männer, die auf jedem italienischen Dorfplatz Wichtiges zu besprechen haben. Meine Kamera hat ihre eigene Wahrnehmung. Und die Zeit, die sich zwischen meine Blogeinträge und das Sortieren der Bilder gelegt hat, breitet einen Teppich, auf dem die Erinnerungen einher geschritten kommen.

































