Badeschlappen, Teil 1: Deutschland
the shoe stories: egal, wie alt, sie tragen Geschichte
The shoe project: erzählt Geschichten von Hilfsbereitschaft und Freundschaften am bunten Faden herrenloser Schuhe
Reisen ist wie Fliegen mit einem Doppeldecker. Die oberen Flügel tragen meine Freunde, das untere Paar ich selbst.
Alles begann 2019 mit einem Kurz-Job auf Sizilien. Dass ich mit meiner Hündin Yoshi ein ¾ Jahr in Italien, Deutschland und mit einem extra designten Cargobike auf dem Donau-Radweg unterwegs sein dürfte, ahnte ich nicht. Geplant war es erst recht nicht.
Weil mir auch diese Reise so viele inspirierende Begegnung mit hilfsbereiten, besonderen Menschen geschenkt hat, möchte ich gern mit den erzählten Geschichten etwas zurückgeben.
Mit den Milchzähnen nagt das Mädchen im Badeanzug die Schokolade vom oberen Keks. Dann versucht sie, mit den Füßen in viel zu großen Plastikschlappen über den glitschigen Boden bis zum Umkleidespind zu schlittern.
Meine Omi hat die goldene Verpackung der Prinzenrolle wie einen Strumpf nach unten gerubbelt. In der anderen Hand hält sie die Milchflasche, von der ich gleich den Stannioldeckel herunterfummeln darf. Ich sammele diese silbernen biegbaren Deckel, um sie für meine Matchbox-Modellautos und die Blechautos aus dem Krieg, die mein Opa mir ab und an zum Spielen gibt, zur Garage umzufunktionieren.
Omi hat die Miniflasche auf der rottigen, Farbe abblätternden Heizung in der Umkleide angewärmt. An jedem einzelnen Dienstag orthopädischen Schwimmens, das mir von dem kleinwüchsigen Doktor mit der schiefen Brille verordnet worden war. Stolz lege ich Milchdeckel Nummer acht in meine Sammeldose.
Und vergesse prompt meine Wut auf den Bademeister, der mich kurz vor Ende der Stunde einfach vom Beckenrand ins Wasser gestoßen hat. „So lernst du am schnellsten!“ hat der Mann gesagt, erzähle ich mit Schokoladenmilchzähnen. „Aber ich kann doch noch gar nicht ganz fertig schwimmen.“ Empört hebe ich vier Finger in die Luft: „Ich bin doch erst so alt!“
„Dem werde ich das nächste Mal aber was erzählen!“ Meine Großmutter, die ich nie so nenne, rubbelt mir liebevoll die Haare trocken.
„Ja?“ frage ich begeistert: „Was denn?“
„Dass mein Carolchen jetzt wie ein Delphin schwimmt und er sich vorsehen soll, dass sie ihn nicht nass spritzt.“
Fliegende Latschen, Trotzköpfe und Wollstrumpfhosen
Wir lachen beide. Jedenfalls, bis Omi die olle kratzige Strumpfhose aus dem Schrank nimmt. „Ach bitte, nein. So kalt ist es doch gar nicht!“
Doch sie bleibt unerbittlich. Auch, als ich mit dem Fuß aufstampfe, sodass der Latsch in hohem Bogen durch den Raum fliegt. Auch nicht, als ich das Gesicht, Heulen vortäuschend, in meinen Fäusten vergrabe.
„Komm schon, nimmt sie meinen nackten Fuß und streift die verhasste Wollstrumpfhose darüber. „Pass mal auf,“ hat sie ein Bein schon fast bedeckt: „Wir lassen deinen Trotzkopf jetzt hier und wenn wir nächste Woche wiederkommen, nehmen wir ihn wieder mit.“ Wider Willen muss ich jetzt noch einmal lachen.
Draußen wartet der Erdbeernasen-Opa im Skoda auf uns. Ich krieche sofort auf meinen Lieblingsplatz hinter den Vordersitzen auf dem Boden. Dort führt mitten durch den Wagenfond eine Röhre.
Für mich eindeutig mein Pferd Iltschi.
„Wie war es beim Schwimmen, Käpt’n Nemo?“ Mein Opa ragt kaum über das Steuer und kann sich während des Fahrens natürlich nicht zu mir umdrehen. Sonst sähe er mein empörtes Kopfschütteln. Wieso weiß er denn nicht, dass ich, Winnetou, Häuptling der Apachen gerade durch dieses Dresden reite?
„Oh nein, ich habe meine Milchdeckel-Sammeldose in der Kabine vergessen, Opi. Sofort umdrehen, bitte!“
Bohnerwachs und Partisanensongs
Beide versichern mir glaubwürdig und geduldig, dass wir auch die Matchbox-Garagen in der kommenden Woche mitsamt meinem Trotzkopf mit nach Hause nähmen.
Obwohl wir alle auf der Straße stehen, muss mein Opa mich zu den Klingelknöpfen hochheben. Zwei Mal kurz, zwei Mal lang. Rituale dürfen nicht an Belanglosigkeiten scheitern. Dass niemand den Türsummer drücken kann, ist ja nicht erwiesen. Immerhin ist mein Teddy dort oben. Na gut, der ist 20 Jahre älter als ich, also alt. Und langsam.
„Ich glaube, der Brummbär bedient sich schnell noch an der Bonbondose.“ schließt meine Oma mit einem der vielen Schlüssel die Haustür auf. Es riecht nach Bohnerwachs und wir stapfen hintereinander die Treppen hinauf. Ich singe laut „Bella ciao“, damit mein Teddy hört, dass wir kommen und die Bonbons verstecken kann. Das Lied ist ein italienischer Partisanen-Protestsong und ich habe ihn im Ferienlager gelernt. Es macht nichts, dass ich nur zwei Zeilen kann: „O partigiano, portami via, o bella, ciao! bella, ciao! bella, ciao, ciao, ciao!“ Für zwei Etagen reicht das vollkommen.
„Gib mir deine Schuhe, die polier ich gleich.“ Nimmt mein Opa, den ich wegen seiner porösen Haut mit Erdbeernase betitele, meine Stiefel mit zum Schuhbänkchen. Omi hängt das Schlüsselbund ans Brett und packt zuerst meinen Schwimmrucksack aus. Die Badeschlappen legt sie in den Waschzuber aus Zink, in dem ich sonst gebadet werde. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass die Schuhe meiner Mutter gehören und picobello zurückgegeben werden müssen. Vielleicht, ich weiß es nicht genau.
Beim Abendessen schicke ich Chingachgook, die große Schlange zum Kohlenholen in den Keller. Er soll Opi beschützen, wenn er die zwei schweren Eimer mit den schwarzen Briketts aus dem dunklen Verließ hochholt. Ich bekomme Tomatenfisch aus der Dose aufs Brot, in meinem Kompottschälchen schwimmen Heidelbeeren in Milch und mir wird eine Runde Roulette vor dem Zubettgehen versprochen. Das „Bemmchen“ ist schnell gegessen, bei den blauen Beeren in ihrem weißen Teich tue ich mich schwer. Nicht, dass sie mir nicht schmeckten. Nur ist es nicht leicht, erst die Großen herauszufischen. Die Blaubeerenkinder würde ich gern verschonen. Mein Mund ist das gierige Maul eines Ungeheuers und ich bedaure jede einzelne kleine Beere, die darin verschwindet.
Was haben Blaubeeren mit Bombenangriffen zu tun?
„Spiel nicht mit dem Essen,“ sagt Omi und nimmt mir den Löffel weg. Der Erdbeernasen-Opa hat die Kohleneimer auf dem Blech vor dem Ofen abgestellt. „Schschsch…!“ macht er. „Ich will jetzt die aktuelle Kamera sehen und das Wetter hören.“ Missmutig räche ich mich an den Beerenkindern, indem ich sie alle auf einmal verschlinge. Nicht ohne schlechtes Gewissen, aber auch befriedigt, denn eigentlich wollte ich gerade nach dem Essen im Krieg fragen, aber ich muss ja meinen Mund halten.
Vom Bombenangriff auf Dresden haben meine Großeltern mir schon viel erzählt, trotzdem fallen mir bei jedem Besuch wieder neue Fragen ein. Im Glastüren-Bücherschrank steht die „Erika“ in ihrem schwarzen Koffer, der mit rotem Samtstoff ausgetucht ist. Manchmal darf ich auf ihr tippen üben, aber natürlich nicht abends. Opa wirft mir einen warnenden Blick zu, als ich die knarzende Tür öffne. Ich greife mir das Lexikon mit dem „W“, weil ich weiß, dass dort viele Bilder dazu abgedruckt sind. Ich habe mir in die Seite mit dem Weltkrieg einen kleinen Knick gemacht. Behutsam achte ich darauf, nicht mit den Fingern direkt auf die Bilder zu fassen. Nicht auf die toten und verwundeten Soldaten und schon gar nicht auf jene mit den fürchterlichen Atombombenopfern in Japan. Ich bin mir sicher, das Grauen kann, wenn man es anfasst, direkt auf einen übergehen. Endlich ist die „Aktuelle Kamera“ beendet, der Schwarzweiß-Bildschirm mit dem Robotron-Logo flimmert tonlos weiter.
„Opi, warum seid ihr nicht in der Bombennacht in den Wald gegangen und habt mit den Tieren von Beeren und Pilzen gegessen?“
Mir ist klar, dass ich für Antworten auf das Roulette verzichten muss.
„Weil ich nachsehen wollte, ob mein Betrieb noch steht.“ Klaubt er die Brotkrumen von seinem Brettchen zusammen und schiebt sie mit den angeleckten Fingern in seinen Mund. „Ich erinnere mich, dass ich die Geschichte meiner Enkelin schon mehrfach erzählt habe?“ Verschmitzt drückt er mir die Kinderzahnbürste in die Hand. „Da ich ja nur die eine habe, die hier im Schlafanzug vor mir steht und Zähne putzen sollte, kennt sie das alles schon, oder?“
Noch nicht ganz überzeugt, versuche ich es bei Omi in der Küche. Gebeugt wäscht sie in den ausziehbaren Tisch-Schüsseln das Geschirr. In der einen ist der Schaum, in der anderen wird klar nachgespült. Mein Großvater wird gleich zum Abtrocknen hinzukommen, sobald er sein Pils ausgetrunken hat. „Kleinen Kindern, die gerade erst so alt geworden sind,“ hält sie vier nasse Finger in die Höhe „erzählt man keine schlimmen Geschichten von toten Menschen vor dem Schlafengehen.“ Sie gießt die Kupferwärmflasche voll und umwickelt sie mit einem Handtuch. Vorsichtig trage ich sie ins Schlafzimmer und lege das schwere Ding unter den weißen Federbettenberg.
„Dann aber wenigstens ein Märchen, bitte!“ Auch, wenn ich weiß, dass sie nach wenigen Minuten schnarchend neben mir liegen wird und ich mir die Geschichte vom „goldenen Schuh“ selbst zu Ende erdenken muss.
Insgeheim bin ich froh, dass Opa meiner Bitte nicht nachgekommen ist, denn natürlich habe ich schon unzählige Male gehört, wie er am Morgen nach den Fliegerbombennächten in die brennende Stadt Dresden gelaufen ist. Dabei oft über tote Menschen steigen musste, wie die brennenden Menschen in die Elbe geflüchtet waren und viele weitere unverständliche Bilder, die mich wahrscheinlich nur wieder von eingestürzten Häusern und Toten träumen ließen. So ist der Gedanke, dass meine Omi ihre Schürze abbindet, sich zu mir und der Wärmflasche legt, mir den Rücken streichelt und Märchen erzählt, doch um einiges verlockender.
Partisanensong des italienischen kommunistischen Widerstands gegen den Faschismus im 2. Weltkrieg