Leben ist keine Numerik, aber Zahlen zählen
Schon immer war meine Radeberger Oma für mich diese krumme und deshalb auch klein wirkende Frau mit der Hakennase. Die trotz ihres Buckels, dem schweren Asthma und sonstiger Gebrechen mit einer blitzklaren Geistesfaust auf den Tisch nicht akzeptabler Wahrheiten hauen konnte.
Nicht wenige Male hat Liselotte 1945 mit einem Zweijährigen, meinem Onkel, und einem gerade wenige Monate altem Kleinkind, nämlich meiner Mutter, im Luftschutzbunker um ihr Leben gebangt.
Auch nach Kriegsende brauchte Liselotte viel Kraft und Einfallsreichtum, ihre Kinder und die eigene Mutter durchzubringen. Mein Großvater war in französischer Gefangenschaft und auch, wenn ihm die Flucht zu Fuß gelang, konnte er seinen Kindern und seiner Frau lange nicht helfen, wenn vorbeiziehende Soldaten den Kartoffelstopplern die Fahrräder oder Handwagen konfiszierten. Tagelanges Hungerbauchweh war ein ebenso unerwünschter Gast wie die Angst der Frauen vor Vergewaltigungen.
Da ich das Glück hatte, mit meiner Oma bis zu ihrem 99. Geburtstag 2020 rege und anhaltend zu kommunizieren, weiß ich das von ihr direkt. Vor allem, und das hilft mir in den Gesprächen mit zu Pflegenden ungemein, hat sie immer geantwortet. Auf alle Fragen. Auch auf die unliebsamen, auch auf die, wo ihr Mann, ihr Vater, ihr Bruder, der „im Krieg geblieben“ war, nicht gut bei weggekommen sind. Liselotte hat keinen Hehl aus der Mittäterschaft in unserer Familie gemacht.
Zeitsprung
Wieder reißt der Wecker mich 5.05 Uhr aus einem Traum. Heute Nacht versuchte ich ein Verbrechen aufzudecken und gleichzeitig gemeinsam mit dem Sohn des Täters eben genau diese Tat zu vertuschen. Das Traumgespinst zieht seine Tasthörnchen wie eine erschreckte Schnecke ein und streckt sich von hinten aus meinem Halbschlafgedankenhaus wieder aus. Der Traum windet sich mit seinen Tentakeln durch mein Denken und lähmt mich noch lange in den Tag hinein.

Ohne, dass ich richtig geschlafen hätte, ist der zweite Tag meines Pflegejobs angebrochen. Vernunft rät mir, heute etwas früher im Büro zu erscheinen, damit ich nicht so gehetzt darauf vertrauen muss, dass meine Kolleginnen die Masken, Handschuhe, die Handytour und sonstige notwendige Utensilien schon zusammengeklaubt haben.
Aber dann stolpere ich mit Yoshi durch die Maulwurfshügel, es ist kalt, stockdunkel und an meine Oma zu denken, wie oft sie wohl so in ihrem Leben früh raus ist mit viel mehr Schmerzen und Sorgen, hilft mir gerade nicht. Es macht mich eher wütend. Wieso haben uns unsere Eltern, Großeltern immer gesagt: „Ich will, dass es dir mal besser geht.“ Aber wenn es dann so war, und natürlich ging es mir – verglichen mit ihrer Kindheit und Erwachsenenleben meistens besser, dann kamen die Vorwürfe. Ich sei nicht dankbar, ich wüsste nicht zu schätzen, wie gut es mir ginge.

Unausgesprochener Neid? Und ich, wieso werde ich wütend auf das, was mir vorgelebt wurde: Pflichterfüllung, Pünktlichkeit, Zähne zusammenbeißen? Weil ich mit meinem Hund durch schlammige Kälte Gassigehen muss? Wer zwingt mich?
Meine Oma tot. Meine Mutter? Wäre enttäuscht. Fühle ich mich schuldig und weshalb? Ja.
Weil ich glaube, die Kolleginnen oder die hilfsbedürftigen Menschen nicht im Stich lassen zu dürfen? Statt weiter an meinem innerlichen Traktat zu schreiben, bringe ich Yoshi nach Hause, frage sie scheinheilig, ob wir nicht einmal tauschen wollen und kratze das Eis von der Autoscheibe. Was mich zu viel Zeit kostet, heute ein bisschen früher im 18 Kilometer entfernten Arbeitsort anzukommen. Dafür habe ich Zeit zwischen Coronanachrichten, Inzidenz-Zahlen, Impfflicht-Befürwortern und was waren nochmal die anderen Nachrichten in den vergangenen zwei Jahren? Für die Erinnerungen an das Leben bis 2018. Mit meinen zwei, nicht einfachen Hunden vor Yoshi.
Bis ich sie innerhalb von drei Wochen nacheinander einschläfern lassen musste, habe ich fast 13 Jahre für diese beiden – viele Jahre als Hundesitterin – auch andere Vierbeiner gelebt. Nach Skys und Taras Tod brach meine Welt, notdürftig zusammengehalten durch einen Schichtenjob im Altersheim, brach ich zusammen.
Autofahrten eignen sich, selbst, wenn man hier an der Ostsee stets mit kreuzendem Wild rechnen muss, ausgezeichnet, Memoiren unter die Restauratorenlupe zu legen. Wieder einmal muss ich mir eingestehen, ich habe mir jeden einzelnen Kummer, unter dem ich jetzt zu leiden glaube, selbst eingebrockt. Und es fühlt sich verdammt nach einer eilig nahenden, mit wehenden Standarten heranpreschenden Kapitulation meinerseits an. Vor meinem selbst gewählten Leben? Vor mir? Meinem Pflichtbewusstsein?

Fünf Minuten vor Dienstbeginn treffe ich im Gewusel der schnatternden, rauchenden Kolleginnen ein und werde angewiesen, mich schnell noch selbst auf Corona zu testen. Überrascht, weil das in meinem vorangegangenen Pflegejob immer von den angelernten Kollegen gemacht wurde, versuche ich mich an die Handhabung zu erinnern. Andrerseits bin ich auch froh, weil ich mir dieses eklig schmeckende Wattestäbchen dann nicht so schmerzhaft tief in den Rachen schieben muss. Ich darf mir aussuchen, wie ich den Test ausführe. Und ich unterschreibe mein negatives Ergebnis selbst. Mit diesem Zertifikat in der Tasche starten die Auszubildende und ich, so schnell wir eben im Stadtverkehr vorankommen, zu einer Behinderteneinrichtung.
Pflege 2021=2022 ?
Sechs Minuten stehen wir vor der Automatiktür dieser Pflegeeinrichtung. Im hell erleuchteten, ungeniert einsehbaren Büro diskutieren zwei beleibte Frauen. An deren Kleidung, anders als an unserer Uniform ist nicht erkenntlich, ob sie zu dieser Einrichtung gehören oder nicht.
„Warum sonst sollten sie sich im Büro aufhalten?“ gebe ich mir Antwort auf meine Zweifel. Ich weiß gar nicht, ob ich sie laut geäußert habe. In jüngster Zeit weiß ich sowieso oft nicht mehr, woran ich glaube, und wem? Das jüngste Gericht ist vielleicht älter als die zwei Jahre Corona. Aber, ermahne ich mich, es gab meine persönlichen Katastrophen. Es gab den „kalten Krieg“, die „Finanzkrise“, „Tschernobyl“, es gibt „Afrikanische Schweinepest“, Hirntumore, Krebs, AIDS.
Vielleicht ist die ANGST nicht German Angst, sondern eine Verkleidungskünstlerin? Und ohnehin individuell? Würde ich behaupten, den Holocaust zu verstehen, es wäre gelogen. Schwarze, Sinti, Roma, die Verunglimpfung von Rassen, Minderheiten, Behinderten. Ich kann mitfühlen, aber nicht nachfühlen. O.k., bei lesbischen Frauen und Ossis darf ich mitreden. Biografische Erlaubnis. Aber dann fängt es schon wieder an: Jugendwerkhof. Osten. Geschichten aus erster Hand. Darf man so etwas auf die Berechtigungsmarkenkarte schreiben?

„Sei Kinobesitzer, nicht Zuschauer, der Geld dafür zahlt, dass er nicht wechseln kann, wenn er merkt, dass er für ein Drama gezahlt hat, aber doch lieber eine Komödie schauen möchte!“ war der Ratschlag meines buddhistischen Lehrers. Ja, ja, schöner Gedanke. Schaukelt meine innere Wut – auf alles – mich wie eine Zombiemutter in einer Halloween,- statt Hollywoodschaukel.
Wir werden von diesen Bürotanten weiter ignoriert. Kurz bin ich geneigt, meine Wut von vorhin aufzublasen und sie als Ballon mit einem „Nicht-Geimpft-Symbol“ in den Himmel über diesem verlogenen Bunker steigen zu lassen. Im Ernst, wir sind hier zu einem körperlich und wenig geistig behinderten Menschen geordert, weil sie in dieser Pflegeeinrichtung es nicht hinbekommen, dem Mann seine Thrombosestrümpfe anzuziehen? Sie kassieren sicher viel Geld für die Aufbewahrung des jungen Mannes. Mein Arbeitgeber wahrscheinlich auch.
weiter, weiter, wohin?
Ich atme und bin froh, dass die Auszubildende eine gestandene Kroatin mit einer wirklichen Frohnatur ist. Sie mich zurückhält: „Das wird schon, kein Stress.“ Und strahlt mich dabei aus Augen an, deren Kraft und Fülle ich malen, nicht aber beschreiben könnte.
Gouvernantenhaft inspiziert die heranwalkürte Büroangestellte unsere Anti-Corona-Tests. Argusaugen heften sich auf diese unnützen Bestätigungen, dass wir nicht infiziert sind. Meine Kolleginnen laufen, wann immer sie können und sich unbeobachtet fühlen, ohne zwangsverordnete FFP2-Maske herum. Ich halte mich, wegen meines Status und Überzeugung zurück, trage die lästige Maulkorbchemie so oft es aushaltbar ist. Meine mehrfach geimpften Kolleginnen, denen es nicht einleuchten will, dass sie immer noch infektiös sein können oder jenen, die sich von der Politik verarscht fühlen, weil sie nun doch drei oder noch mehr Injektionen vor- oder nachweisen sollen, setzen die Masken aus Protest nicht auf.
Die Papiere inspiziert, wir im unaufgeräumten Zimmer des Mannes. Zugegeben, ich bin sehr erleichtert, dass wir unseren Zeitverlust von der Kontrollwarterei wieder gutmachen, denn die Stützstrümpfe hat unser Klient von irgendwem doch schon übergezogen bekommen.
Ganz einfach gefragt: Wieso bestellen sie die mobile Pflege in eine vollstationäre Pflegeeinrichtung? Und wieso ist dieses Zimmer geruchsintensiv und in einem verwahrlosten Zustand wie das eines Messies?

Weiter geht es. „Wen haben wir jetzt?“
„Den Russen.“
„Ach, das geht ja schnell. Jedenfalls, wenn er nicht betrunken ist und die Tür öffnet.“
Wir haben Glück, jemand parkt direkt vor uns aus. Der Russe, niemand nennt ihn bei seinem richtigen Namen, hat den Türsummer nach etwa zwei Minuten gedrückt. Ein gutes Zeichen. Auch dieses Mal lächelt er über meine Begrüßung. „Sdrastwuitje“. Kaum haben wir die Tür hinter uns geschlossen, setzt er sich demütig auf den einzigen Stuhl an seinem schmucklosen Küchentisch und hält die Hand auf, damit eine von uns ihm die vierzehn Tabletten, in schluckbaren Dosen verabreicht. Neben dem uralten und scheinbar schon lange nicht mehr benutztem Herd hat er ein Bataillon leerer Flaschen mit dem eisigen Aufdruck „Gorbatschow“ aufgereiht. Ob er die selbst in den Altglas-Container bringt? Wer kauft für ihn ein?
Meine Kollegin hatte ihm in der vergangenen Woche ihren alten Fernseher geschenkt. Es sieht nicht so aus, als hätte er das Gerät irgendwie anschließen können. Leider reicht mein Schulrussisch nicht, ihn zu fragen, ob er fernsehen möchte und ob wir uns kümmern sollten, dass er einen bezahlbaren Vertrag bekommt. Ich fürchte, sein Deutsch kommt mir auch nicht weit genug entgegen auf dieser Kommunikationsbrücke.
Seine blassgrauen Augen verengen sich, als er sich die vorletzte Tablettenhand hinunterschüttet und so schlimm verschluckt, dass er ins Bad stürzt, sich zu übergeben. Hilflos stehen wir auf dem rissigen Linoleum, neben dem Plastikbecher mit dem Leitungswasser tickt ein Wecker. Nach vier bangen Minuten hat er sich wieder berappelt. „Er hatte Tuberkulose,“ raunt meine Kollegin mir zu.
„Geht es wieder?“ frage ich bestürzt, als er mit hochrotem Gesicht, aber irgendwie apathisch auf dem Stuhl sitzt.
„Gut, gut.“ Nickt er und kippt tapfer die letzten drei Pillen ohne Wasser herunter.
„Doswidanja.“
So schnell, wie sie die Tür ins Schloss zieht, vermute ich, ist meine Begleiterin genauso erleichtert, dass wir es ohne weitere Zwischenfälle hinter uns gebracht haben.